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Torre Pellice zur Zeit von Clara Coissons Geburt in diesem Waldenser-Ort in der Nähe von Turin, Foto: Di Sconosciuto Collegamento

1923 war kein gutes Jahr für die Völkerverständigung: In Deutschland besetzten Franzosen das Ruhrgebiet; Hitler nutzte das Chaos der Hyperinflation für einen Putschversuch nach italienischem Muster. Sein Vorbild Mussolini regierte nach dem inszenierten “Marsch auf Rom” schon seit einem Jahr. In dieser nationalistisch aufgeheizten Atmosphäre war internationale Verständigung nicht besonders angesagt. Doch neben Diplomaten setzten sich Kulturvermittler weiterhin dafür ein. Eine von ihnen war die Italienisch-Lehrerin Clara Coisson-Gersoni, die im Januar 1923 in Riga eintraf. Über sie ist heutzutage nur noch wenig bekannt. Deshalb schrieben die lettischen Dozentinnen Iveta Kestere und Gunta Marihina mit Elena Marescotti, die an der Universität in Ferrara unterrichtet, 2015 gemeinsam einen Aufsatz, um das Bekannte über Lettlands erste offizielle Italienisch-Lehrerin zusammenzutragen.

Nach Angaben der Autorinnen war Clara Coisson ab Sommer 1923 die erste weibliche Lehrkraft an der Lettischen Universität. Zudem unterrichtete sie später Italienisch am Lettischen Konservatorium und der Lettischen Volksuniversität. Bereits seit ihrer Ankunft erteilte sie Sprachkurse am Instituto Italo Baltico in Riga; ihr Gehalt bezog sie von Mussolinis Regierung. Doch bald schon gab es Spannungen mit der Institutsleitung; offenbar war der energischen Norditalienerin deren Führung zu lasch. Ein Jahr später gründete sie deshalb, ebenfalls von Italien finanziert, das Institut Corsi d’Italiano, deren Leiterin sie wurde. Mehrere hundert Letten, Juden, Russen und Deutsche, die meisten von ihnen Studierende, erlernten in der Zwischenkriegszeit die italienische Sprache. Die Institutsleiterin verlangte Ordnung und Disziplin. Teilnehmer sollten im Unterricht, der für sie kostenlos war, Lerneifer zeigen, sonst mussten sie die Kurse verlassen. Drei Jahre dauerten die abendlichen Sprachkurse. Wer durchhielt, konnte schließlich moderne Klassiker der italienischen Literatur lesen.

Geboren wurde Clara Coisson 1896 in Torre Pellice bei Turin. Der Ort ist eine Hochburg der Waldenser, der Konfession, zu der sich auch ihre Eltern bekannten. 1916 erhielt sie von der Universiät Florenz das Diplom als Französischlehrerin; zwei Jahre später machte sie mit Bestnote das Examen als Lehrerin für italienische Sprache und Literatur. Sie arbeitete an Hochschulen in Pavia und Genua, schrieb in dieser Zeit ein Buch zur französischen Forschung über Italien.

Die energische Lehrerin begnügte sich nicht mit bloßem Sprachunterricht. Ihr war es wichtig, zum Verständnis für fremde Kulturen beizutragen. An der Lettischen Universität hielt sie ehrenamtlich Vorlesungen zur italienischen Literatur. Sie ließ an ihrem Institut eine Bibliothek mit 3000 italienischen Büchern einrichten, dazu kamen Zeitschriftensammlungen, die jeder Interessierte kostenlos lesen durfte. Um die Attraktivität des Unterrichts zu erhöhen nutzte Coisson Film- und Diamaterial. Bereits im April 1923 hatte sie zum Gedenken an den 50. Todestag des Schriftstellers Alessandro Manzoni einen Vortrag gehalten. Sie engagierte sich in der Gesellschaft Amici dell`Italia, die 1934 gegründet wurde und bald 350 Mitglieder hatte, darunter Diplomaten, Pädagogen und Künstler. Dieser Verein organisierte die Aufführung italienischer Opern im Konservatorium, zeigte aber auch faschistische Propagandafilme wie Camicia Nero, das Schwarzhemd. 1935 fand eine italienische Woche in Riga statt. Besucher und Gäste sahen eine Ausstellung mit italienischer Grafikkunst, die Oper “schalkhafte Witwe” des deutsch-italienischen Komponisten Ermanno Wolf-Ferrari, das Theaterstück “Francesca aus Rimini” des nationalkonservativen Dichters Gabriele d`Annunzio; die Organistin Maria Amalia Pardini gab Konzerte. Im Lettischen Radio, das damals seit zehn Jahren existierte, übertrug man die Oper “Tosca” aus Mailands Oper La Scala.

Trotz solcher kultureller Annäherungen hatte sich der politische Zustand Europas weiter verschlimmert. Stalin erwies sich als skrupelloser Diktator; Hitler hatte legal die Macht “ergriffen” und sein Vorbild Mussolini befahl italienischen Soldaten, Abessinien zu überfallen. Seit Mai 1934 hatte auch in Lettland Karlis Ulmanis die Demokratie beendet, sich zum Führer erklärt, Oppositionelle eingesperrt.

Hauptgebäude der Lettischen Universität, Foto: Neaizsargāts darbs, Saite

Clara Coisson hatte sich in Lettland eingerichtet. 1924 heiratete sie Zamuels Gersoni, der in seiner Kindheit und Jugend in Deutschland und Russland gelebt hatte. Er arbeitete als Sportlehrer, später als Vertreter einer Reifenfirma. Das Paar wohnte in der Rigaer Innenstadt und bekam zwei Töchter. Die Italienerin lernte Lettisch und erhielt den lettischen Pass: “Lettland gefällt mir. Mit eigenem Schicksal bin ich mit ihm verbunden. Und ich tue alles, damit sich das lettische Volk kulturell dem Volk meines alten Heimatlandes annähert, dem italienischen Volk. Italien hat als erstes die neue lettische Republik anerkannt. Es erhob auch als erstes die Stimme, um Lettland in den Völkerbund aufzunehmen.” Mit diesen Worten wird Clara Coisson-Gersoni im Aufsatz zitiert. Doch ihre Ehe scheiterte. Kurz vor dem sowjetischen Einmarsch in Lettland beschloss sie 1940, Lettland mit ihren Töchtern zu verlassen, weil sie fürchtete, dass der lettische Staat dem Vater das Sorgerecht zuteilen könnte. Sie emigrierte nach Bulgarien und leitete dort das italienische Kulturinstitut. Die Töchter wuchsen bei der Großmutter in Torre Pellice auf. Den jüdischen Ex-Ehemann und Vater Zamuels Gersoni erwarteteten in Riga letzte verhängnisvolle Tage: Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht musste er mit seiner Tochter aus zweiter Ehe ins Rigaer Getto ziehen. Die beiden wurden wahrscheinlich mit vielen anderen Leidensgefährten von der SS ermordet.

Am Ende des Krieges kehrte Clara Coisson-Gersoni nach Italien zurück und arbeitete noch eine Weile als Spionin der Alliierten im Gestapo-Büro in Turin. Nach dem Krieg lehrte sie Französisch in Iesi und Turin. In Italien blieb sie Kulturvermittlerin. Aus dem Lettischen übersetzte sie 50 Volkslieder ins Italienische. Für die Verlage Frassinelli und Einaudi übersetzte sie bekannte russische und deutsche Klassiker. Sie starb 1981. Ihre Tochter Marina Jarre wurde Schriftstellerin. Für ihren Roman “Ritorno in Lettonia” (Rückkehr nach Lettland) erhielt sie 2004 den Preis Premio Grinzane Cavour.

Zu Clara Coisson-Gersonis Aktivitäten gehörte das Organisieren von Kulturreisen. Iveta Kestere, Gunta Marihina und Elena Marescotti entdeckten eine Ankündigung in der lettischen Presse vom Juni 1930 zu “einem außergewöhnlich reichhaltigen Reiseroute”, die in düsteren Herbsttagen die Fantasie beflügelt: Von Riga über Warschau nach Wien, Venedig, Bologna, Florenz, Rom (Ausflug zu Roms historischen Stätten) nach Neapel (Ausflüge nach Capri, Pompeji und zum Vesuv) und Sizilien, von dort aus zurück nach Rom, Mailand, Verona, Innsbruck, Wien, Warschau und Riga.

Quelle:

Ieveta Kestere u.a.: LU lektores (1923–1940) Klaras Koisones-Gersoni (1896–1981) profesionala un sabiedriska darbiba italu kulturas popularizesna Latvija, in: Latvijas Universitates Raksti, 2015, Band 809. Zinatnu Vesture un Muzejniecibas, S. 65-73.

Ein Gedanke zu „1923: Clara Coisson-Gersoni wird erste Italienisch-Lehrerin der Letten“
  1. Ich bin mit den Auslassungen von Herrn Bongartz nicht immer einverstanden, aber dies ist ein Beispiel für den weiten Blick, mit dem er Themen für diese Seite auswählt. Und für die gute Recherche.

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