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Die psychiatrische Anstalt Sarkankalns im Jahr 1938, im Vordergrund ihr Verwaltungsgebäude. Foto: lv.wikipedia.org, Urheber unbekannt.

Ende Januar gedenken offizielle Vertreter Deutschlands und der Vereinten Nationen den Holocaustopfern, zu denen größtenteils die jüdischen Bürger Europas gehörten. Die Verbrechen des NS-Regimes an Psychiatriepatienten sind deutlich weniger präsent. An solchen Insassen der sogenannten „Heil- und Pflegeanstalten“ erprobten Nazis mit aktiver Unterstützung vieler Psychiater erstmals die Menschenvernichtung in Gaskammern. Die sogenannten T4-Aktionen der NS-Täter verwandelten das Wort „Euthanasie“, das „schöner Tod“ bedeutet, in einen Euphemismus für Massenmord. Etwa 70.000 Patienten starben in den psychiatrischen Anstalten von Grafeneck, Hadamar, Pirna-Sonnenstein, Hartheim, Bernburg und im Zuchthaus Brandenburg, das für den Patientenmord speziell hergerichtet wurde. Zwar wurde diese Art des Tötens nach den Protesten von katholischen Bischöfen eingestellt, doch danach ließen die Täter der NS-Psychiatrie Patienten verhungern oder sie fielen tödlichen Injektionen zum Opfer, so dass geschätzt weitere 90.000 starben (t4-denkmal.de). Nach dem Krieg wurde in Deutschland kaum jemand zur Verantwortung gezogen und die Psychiater setzten ihre Karriere oftmals fort. Auch in den eroberten Gebieten stellten die deutschen Besatzer nicht nur für Juden, sondern auch für die Insassen psychiatrischer Anstalten eine tödliche Gefahr dar. Am 29. Januar 1942 erschossen SS-Angehörige, flankiert von lettischen Hilfspolizisten, 368 Patienten der Rigaer Sarkankalns-Klinik, die 1862 als deutschbaltische Privatklinik Rothenberg gegründet worden war.

Die Historikerin Rudite Viksne ermittelte für die Historische Kommission des lettischen Staatspräsidenten die Archivdaten zu den Patientenmorden unter deutscher Besatzung.1 Sie ist der Ansicht, dass die Verbrechen nicht aus rassehygienischen Gründen erfolgten, denn das Nazi-Regime hatte kein Interesse, die lettische Bevölkerung vor der sogenannten “Degeneration” zu bewahren.2 Eugeniker, die damals als angesehene Wissenschaftler galten, vertraten die Auffassung, dass angeblich schwere psychische Erkrankungen erblich seien und dass das Volk sich vor solchem Nachwuchs schützen müsse, um nicht gänzlich zu degenerieren. Daher wurden mit wissenschaftlicher Begründung Psychiatriepatienten isoliert, dann sterilisiert und schließlich umgebracht. Der Massenmord in den besetzten Gebieten geschah hingegen aus pragmatischen Gründen: Die Versorgung und Betreuung von Psychiatriepatienten benötigten Personal und Ressourcen, bedeuteten also eine Last für die militärischen Angreifer. Nach deren Logik war es effizienter, sich der Insassen zu entledigen und die Anstalten in Lazarette zu verwandeln.

Hermanis Buduls war erster Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Lettischen Universität.3 Zugleich war er Direktor der Klinik Sarkankalns im Norden Rigas, die er bereits seit 1919 leitete. Nach der Eroberung Lettlands durch die deutsche Wehrmacht musste Buduls erfahren, dass die SS eine Gefahr für seine Patienten darstellte. Die Deutschen hatten mit Unterstützung lettischer Hilfspolizisten bereits im August 1941 die Psychiatriepatienten von Daugavpils ermordet. Viksne ermittelte die Aussage seines Angestellten Hermanis Saltups, der sich am Kriegsende vor der sowjetischen Sonderkommission verantworten musste. Die Oberärzte von Sarkankalns infomierten Buduls monatlich über den Gesundheitszustand einzelner Patienten. Im Januar 1942 wurden auf Druck der Besatzer weitere Angaben erforderlich: Nun sollte…

“in diesem Bericht schriftlich die Diagnose für jeden Patienten, seine Aufenthaltsdauer und die Auskunft, ob er einer Tätigkeit nachging, hinzugefügt werden. Um diese Zeit suchten irgendwelche Leute den Direktor auf, die wie deutsche Oberbefehlshaber aussahen. Dadurch wurde deutlich, dass auch dieses Krankenhaus das Schicksal der psychiatrischen Anstalt von Daugavpils ereilen würde. Seitdem wies der Direktor an, keine neuen Kranken aufzunehmen. Gemäß seiner Anordnung begannen die Ärzte im verstärkten Maß, Patienten zu entlassen, sie überzeugten die Angehörigen, nach Möglichkeit die Kranken nach Hause zu bringen. [Der Medizinhistoriker] A. Viksna erwähnt im Text über den Direktor der Sarkankalns-Psychiatrie, H. Buduls, auch den Fall, dass in der Zeit der deutschen Besatzung der Klinikchef in Todesgefahr geriet, denn er wurde beschuldigt, Kranke aus seiner Anstalt entlassen zu haben, um sie vor dem sicheren Tod zu retten. Doch es gelang, die Vernehmer davon zu überzeugen, dass der Professor gemäß der lettischen Praxis gehandelt habe – die ruhigen Kranken bei Landwirten unterzubringen, ihnen eine bestimmte Geldsumme zahlend.“4

Der 29. Januar 1942 war nicht der erste grauenhafte Tag für Sarkankalns gewesen. Bereits am 1. September 1941 hatten SS-Angehörige die 133 jüdischen Insassen erschossen. Die deutschbaltischen Patienten waren ins Deutsche Reich überführt worden, um dort in die Tötungsanstalten verfrachtet zu werden. Nun waren in Rothenberg jene Patienten an der Reihe, die sich seit mehr als fünf Jahren in psychiatrischer Behandlung befanden und nun mit der Aktennotiz “von der Sicherheitspolizei abgeführt” zum Ort ihrer Liquidierung transportiert wurden. Die übrigen Insassen kamen zur nahegelegenen Anstalt Aleksandra Augstumi (Alexanderhöhe), doch auch sie entkamen ihrem Ende im Massengrab von Bikernieki nicht. Laut Zeugenberichten injizierten die Pfleger unruhigen Patienten der verbliebenen Anstalt am 14. April 1942 Beruhigungsmittel; sieben LKW fuhren vor; die Klinikleitung ordnete Geheimhaltung an. Das Personal durfte Angehörige nicht informieren; die Standardantwort auf Anfragen lautete, dass sie “irgendwohin” gebracht würden. Patienten wurde gesagt, dass sie in eine andere Anstalt kämen oder man sie nach Hause bringe, so dass sich die Stimmung aufheiterte.5

Neben den Verhörprotokollen aus sowjetischer Zeit lieferte der Prozess gegen den NS-Kollaborateur Viktors Arajs, der in den siebziger Jahren vor dem Hamburger Landgericht stattfand, wichtige Informationen über die NS-Verbrechen auf lettischem Territorium. Das Kommando Arajs hatte sich an den Massenerschießungen beteiligt, zuweilen selbst geschossen. Viksne zitiert die Aussage eines Mitglieds dieses Kommandos:

„Am Morgen wurden wir informiert, dass wieder Menschen erschossen werden müssten.[…] Demnach sah es so aus, dass wir Menschen zu ihrer Erschießungsstätte führen mussten. Man schickte mich mit anderen Polizisten mit Lkw zum Wald von Bikernieki. […] wir bezogen unsere Posten. Meiner befand sich ungefähr 50 bis 60 Meter von der frisch gegrabenen Grube entfernt. Die Grube befand sich auf einer Anhöhe, ich stand tiefer. Von hier aus konnte ich einige Episoden beobachten. Kurz nachdem wir Stellung bezogen hatten, zeigte sich ein Auto, in dem sich Arajs, Lange und noch einer von den SD-Mitarbeitern befanden. Hinter diesem Auto fuhr ein schwereres Fahrzeug heran, mit dem die Polizisten des Arajs-Kommandos die Menschen zur Erschießungsstätte brachten. Es zeigte sich, dass sie geistig Kranke waren. Nach diesem Fahrzeug kamen weitere an, in welchen ebenfalls Geisteskranke waren. Es waren nicht weniger als fünf Fahrzeuge, die Ladeflächen waren mit Zelttuch abgedeckt. Alle Fahrzeuge waren deutsch, die Fahrer waren, soweit ich mich erinnere, auch Deutsche. Unter den Opfern befanden sich sowohl Männer als auch Frauen. […] danach wurden sie aus den Fahrzeugen ausgesetzt, das Arajs-Kommando brachte sie einzeln zur Grube. Einige Kranke, – jene, die sich widersetzten, wurden von zwei Polizisten bewacht, mit Gewalt gezogen. Die Polizisten traten beiseite und Tobiass, Eglitis (von kleinem Wuchs, weshalb man ihn `Jolka`nannte) und andere, an deren Nachnamen ich mich nicht erinnere. Die Erschossenen fielen in die Grube. Einige Kranke, die nicht begriffen, was geschah, lachten, sangen lettische Lieder. Unter ihnen waren auch welche, die auf dem Boden lagen und es war schwer, sie aufzurichten. Sie wurden gewaltsam in die Höhe gezogen. Zwei oder drei Kranke, die kaum aufzurichten waren, wurden auf der Stelle erschossen, wer dies machte – ich erinnere mich nicht. […] An diesem Tag wurden nicht weniger als 200 Menschen getötet. Danach ließ uns Arajs an der Grube versammeln und warnte, dass wir niemals jemandem etwas über diese Erschießung sagen dürften.6

Viksne ermittelte, dass mindestens 2327 Psychiatriepatienten aus Riga, Daugavpils, Strenci, Jelgava und Liepaja von der SS ermordet wurden.7 Ein bekanntes Opfer ist der symbolistische Maler Peteris Krastins, der sich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in psychiatrischer Behandlung befand. Auch er wurde am 14. April 1942 ein Mordopfer der SS.

Die „Evakuierung“ der Psychiatriepatienten bedeutete das Ende für die psychiatrische Anstalt Sarkankalns, die 1862 vom deutschbaltischen Arzt Gregor Brutzer als kleine Privatklinik Rothenberg für vermögende Patienten gegründet worden war. Doch mit solchen Klienten vermochte er nicht genügend Profit zu erwirtschaften, so dass er zehn Jahre später seine Institution an das städtische Armendirektorium verkaufte, selbst aber hoch dotierter Leiter der Anstalt blieb. Nach und nach wurde die Klinik erweitert, um vor allem Patienten aus ärmeren Milieus der rasch wachsenden Industriestadt Riga aufzunehmen, deren Kosten im Bedarfsfall die Rigaer Steuergemeinde übernahm. Nach damaligen wissenschaftlichen Annahmen war die Behandlung strikt somatisch-reduktionistisch orientiert, d.h. die Ärzte nahmen an, dass vor allem organische Defekte psychische Krankheiten verursachten und sie schlossen biographische und psychosoziale Gründe weitgehend aus. Buduls selbst war ein Vertreter der Eugenik, war an der deutschen Wissenschaft orientiert, hatte seine Dissertation zur vergleichenden Rassenpsychiatrie geschrieben und bei „angeborenem Schwachsinn“ die Sterilisation empfohlen. Doch die Skrupellosigkeit der deutschen Besatzer wies er nicht auf und zeigte sich im Ernstfall bemüht, Menschenleben zu retten.

Quellen:

1Rudite Viksne, Die Tötung der Geisteskranken in Lettland in der Zeit der NS-Besatzung (Garigi slimo iznicinasna Latvija nacistiskas okupacijas laika), in: The Issues of the Holocaust Research in Latvia, Reports of an International Seminar, 29 November 2001, Riga and the Holocaust Studies in Latvia in 2001-2002 (Symposium of the Commission of the Historians of Latvia, Volume 8), Latvijas vestures instituta apgads, Rīga 2003, S. 324-347. Die Zitate aus ihrem Beitrag wurden von mir ins Deutsche übersetzt.

2Viksne, S. 341.

3Vgl. Buduls, Hermanis (biapsy.de).

4Viksne, S. 336.

5Viksne, S. 337.

6Viksne, S. 337f.

7Viksne, S. 341.

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