Odessa wird sehr still
Den alten Mann wieder auf den Markt getroffen, welcher den hervorragenden Schafskäse produziert. Er macht ihn schon seit 40 Jahren.
Ebenso findet man ganz viel selbstgemachten Wein und Cognac auf dem Markt in Odessa. Er war sowohl am Sonntag als auch am Montag sowie am Dienstag sehr leer – nicht dass es ein schwindendes Angebot gäbe, aber die Kunden bleiben aus, das heißt: Waren werden immer noch viele verschiedene in großer Menge angeboten, bloß es fehlen die kaufenden Kunden. Dafür sind die Kostproben, die man von allen Waren bekommen kann, sehr großzügig bemessen. Nicht nur dass man große Wurststücke erhält und große Käsestücke, auch ein kleines usbekisches Esslokal hat uns gleich gedünstetes Schafsfleisch nach seiner eigenen Art zum Probieren angeboten.
Insgesamt ist die Stimmung in Odessa weitgehend gedrückt. Man man spürt förmlich die Resignation nach dem über einjährigen Krieg, der hier stattfindet, und viele der Leute sehen keine wirkliche Zukunft mehr, weder für die Ukraine noch für sich selber.
In einem Klamottenladen mit einer alten Frau geredet, die als Verkäuferin dort arbeiten muss, da sie mit 50 € Rente nicht überleben kann. Was sie von Selensky hält, war unsere Frage, plocha, schlecht, er wäre kein Rechtgläubiger.
Ob sie sich vorstellen könnte, unter Russland zu leben, ja, wäre kein Problem.
Dann einen Flaggen-Laden mit vielen Militaria aufgesucht, unter anderem auch viele Propaganda-T-Shirts mit antirussischen Sprüchen oder ukrainischen Motivationsparolen. Darunter eine Flagge mit dem ukrainischen Satz, den meine Bekannten zuerst nicht richtig verstanden haben. Sie fragten einen anderen Passanten, was er bedeutet. Er sagte “alles wird ukrainisch” stehe auf der Flagge, später nochmal sprachlich recherchiert heisst genaugenommen: “Alles wird Ukraine”. Er fügte noch mit einem zynischen Humor hinzu, dass ja auch Deutschland bald ukrainisch werde.
Dieser Spruch auf der Flagge noch dazu verbunden mit einer kirchlich angehauchten ukrainischen Marienfigur ist Hybris par excellence.
Wenn meine beiden Bekannten mitunter versuchten euphorisch slava ukraine zu grüssen oder sich so zu verabschieden, so war die Antwort etwa so wie man im dritten Reich 1945 den Hitlergruss als lästige Pflichterfüllung unternommen hat, Begeisterung war da jedenfalls nicht mehr zu entnehmen.
Überall um den Markt herum befinden sich Obdachlose und völlig Betrunkene, die in den Gassen liegen, daneben dann die völlig verarmten älteren Männer, die in den Mülleimern nach irgendwas Brauchbarem herumkramen.
Als wir den Markt verließen und uns untereinander etwas auf Deutsch unterhielten, sagte ein Mann in schlechtem Deutsch ganz treffend :
“Alles kaputt”.
Früher hat man in Osteuropa meist den einzigen deutschen Satz von den Menschen vernommen, den sie kannten, nämlich: “Hitler kaputt”.
Am Nachmittag dann an der Küste Odessas entlang gefahren, die meisten alten Gebäude stehen leer oder sind zerfallen. Ein neu errichtetes Gebäude des Militärs wurde von einer Rakete getroffen.
Wir haben versucht, mehrere Passanten zu fragen, was das überhaupt für ein Haus gewesen sei, ob eine Akademie oder was auch immer, darauf antworteten sie, darüber dürften sie nicht reden.
Überhaupt merkt man, dass viele Menschen in Odessa gar nicht so gerne mit Fremden reden. Der Großteil der Strände ist gesperrt, mit Militärposten besetzt, nur ein Strand ist für das Publikum zugänglich, welcher weiter im Westen von Odessa liegt. Der Hafen ist vollständig leer, keine Aktivitäten, außer ein paar kleine Schlangen von LKW mit Getreide, die aber in keiner Weise mit der irrsinnig großen Menge solcher Transporte in Reni zu vergleichen sind.
In der Nähe des teils abgebrannten Gewerkschaftshauses, wo über 50 Russen 2014, die gegen den Maidan protestiert hatten, geflüchtet waren und im brennenden Gebäude starben, haben wir mit zwei Ukrainern gesprochen, die uns den Vorfall noch mal genauer erklärten.
Sie meinten, die Untersuchungen sind bis heute noch nicht abgeschlossen. Und sie meinten, dass Russland im Austausch für die Krim Belgorod bekommen hätte. Belgorod gehörte 1917 bis 1919 zur Ukraine. Sie meinten, dass die ukrainischen Einwohner der Krim schon seit dem Jahr 2000 nach und nach die Halbinsel verlassen hätten.
In der Nähe gibt es immer noch eine kleine Gebrauchtbücherzeile, wo Händler relativ moderne gebrauchte Bücher anbieten. Aber ich kann mich als reisender Antiquar natürlich erinnern, dass es noch 2015 oder 2017 viel viel mehr waren. Dennoch kann man immer noch einige kleine Überbleibsel aus der Sowjetzeit sehen, es gibt mitunter noch ein Straße, die nach Karl Marx benannt ist, es gibt viele Monumente, die an den Vaterländischen Krieg erinnern. Die Cafés und Restaurants, die noch geöffnet haben, sind weitgehend leer.
Wir haben dann über Internet versucht, ein Apartment zu buchen, das relativ günstig war. Der erste Versuch schlug fehl, da der Anbieter, der immerhin uns zurückrief, sagte, dass alles nicht mehr aktuell sei.
Der zweite Versuch gelang, das war im Stadtteil Primorske von Odessa, dort kamen wir in einem 14stöckigen Wohnblock unter, es gab eine komplette Wohnung zu mieten für 20 € die Nacht in der 7. Etage.
Wenn man aus dem hinteren Fenster schaut sieht man das Internationale Rote Kreuz in einem grösseren Gebäude vertreten.
Die Wohnung war sehr exklusiv eingerichtet, die Frau war freundlich, sie fuhr mit einem großen 8 Jahre neuen BMW umher und ich fragte, wie viele Nächte sie im Monat überhaupt noch an wen vermieten könne. Sie antwortete sehr offen: an Flüchtlinge. Bezüglich der wirtschaftlichen Lage verbreitete sie Zweckoptimismus, es würden schon viele wieder in die Stadt zurückkehren. Als mein Bekannter ihren dicken BMW ansprach, entschuldigte sie sich dafür, dass er schon so alt sei. Aber netterweise fuhr sie uns später, als wir abreisten, noch zum Bahnhof.
Später am Abend, als wir noch mal einen Gang um die Ecke machten, um vielleicht ein Bier zu trinken, kamen wir in ein Café bzw. Kneipe, da war zwar noch Licht, aber der Kellner sagte, es sei kurz vor 22 Uhr und nach 22 Uhr werde kein Bier mehr verkauft. Dann sei das Restaurant geschlossen, sogenannte Sperrstunde.
Also noch schnell ein Bier im kleinen Supermarkt um die Ecke gekauft, gerade noch rechtzeitig, zwei Minuten bevor auch er geschlossen hätte und ein wenig an der Straße herumgestanden. Verschiedene Leute standen ebenfalls dort, einige Hunde, ein großer von ihnen fiel einen Mann an. Man spürte, wie die Stimmung gegen Abend von Resignation und Enttäuschung in Aggression umschlagen konnte.
Nachts dann gegen 1 Uhr hörte man Artilleriegeschosse, Raketen oder Drohnen, die irgendwo im Hafen einschlugen. Am nächsten Tag hörten wir das dort ein weiteres Gebäude getroffen wurde.
Wenn man etwa gegen 21.30 Uhr abends aus dem Fenster schaut und die vielstöckigen Wohnhäuser betrachtet, sieht man, dass zuweilen in weniger als einem Drittel der Häuser die Wohnungen beleuchtet sind.
Nicht dass es keinen Strom gäbe, dort lebt keiner mehr. Das heißt, dass vermutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung von Odessa schon die Stadt und vielleicht sogar das Land verlassen haben und ein Teil von ihnen sind auf dem Schlachtfeld gestorben.
Aus dem Russischen Merkur von 1805, gedruckt in Riga, wo der erste Plan von Odessa veröffentlicht wurde und ein Plan der Lage im Schwarzmeer kann man folgenden Satz entnehmen:
Bezüglich des Plans von Odessa: “Nach ein paar Jahrhunderten kann er dazu dienen, das abermals ein Journalist es vergleichend mit der Anzeige ausstellt: Odessa wie es im Jahre 1800 war und wie es im Jahre 2000 ist. Dan wird aber mein Herr Verleger wohl schwerliche mehr einen Ferding darauf gewinen, so sehr ich ihm es wünschte. Und am Ende dürfte wohl umdiese Zeit schon der ganze Merkeur verhökert seyn. Aber wer hat im Gesetzbuch der Zeit gelesen? Dieser Plan kann noch existieren und – Odessa verschwunden sein. Der Mensch will Erhaltung, die Zeit will Zerstörung.”
Ebenso ist natürlich der Verkehr relativ spärlich, es gibt keine Staus, dafür sieht man immer noch sehr viele, sehr teure, dicke Fahrzeuge
Auf Empfehlung der Frau, die das Apartment vermietete, sind wir eines Abends in ein ukrainisches Restaurant gegangen, die Preise waren zivil, man kann mit Getränken ca. zwischen 10 und 12 € pro Person rechnen. Sie hatten russisch- bzw ukrainischsprachige Speisekarten und auch eine englischsprachige. Die Preise waren wegen der Inflation schon mehrfach überklebt. Dann verglich ich die russische mit der englischen Speisekarte und stellte fest, dass die Preise verschieden waren; die englische Speisekarte war ca 10% billiger als die ukrainische.
Daraufhin sagte ich der Kellnerin, dass ich gerne das Beef stroganoff aus der englischen Speisekarte bestellen würde und nicht das ukrainische; sie lachte und erklärte, dass die englischsprachige Speisekarte schon seit Jahren veraltet sei, aber es sei auch nicht nötig, sie neu zu drucken, da kaum Ausländer kämen.
Die Polizei ist auch nicht mehr in dem Maße vertreten, wie ich das in früheren Jahren in Odessa wahrnehmen konnte; deshalb heizen viele mit 100 Stundenkilometern durch die Stadt.
Wo einst die Straßenbahn stets mit einem Anhänger gefahren war, genügt jetzt ein Einzelfahrzeug.
Immer noch arbeiten einige Schönheitssalons, man fragt sich mitunter, für wen, wenn nur noch Frauen da sind und die meisten Männer an der Front oder gestorben sind und auffällig viele Frauen laufen mit ihren Schoßhunden oder anderen Kötern durch die Stadt.
Zum Abschluss noch mal ins Restaurant gegangen, neben dem Zoo-Park, wo es gutes Schaschlik gibt.
Mein lettischer Bekannter fragte, ob er mit der Kellnerin zusammen ein Foto machen könne. Ja, sagte sie, kein Problem. 10 Minuten später kam sie zurück und meinte, nein, ihr Freund würde auch dort arbeiten und er hätte ihr das nicht erlaubt.
Ein armenischstämmiger junger Taxifahrer meinte noch auf dem Weg zum Bahnhof bezüglich des Krieges in der Ukraine, dass er ja eventuell im September schon beendet sein werde, da beide Parteien kriegsmüde seien. Es könne zu irgendwelchen vorläufigen Friedensvereinbarungen kommen, die aber bestimmt nach 1-2 Jahren wieder gebrochen würden. Dann werde der Krieg wieder von neuem aufflammen wie in anderen Krisengebieten z.B. in Armenien.
Die letze Folge kommt morgen 9. Juni 2023