Fr. Mai 17th, 2024

Ab Ismail Richtung Wylkowe ist die Straße eigentlich technisch gesehen unpassierbar; eine Durchschnittsgeschwindigkeit von ca. 20 km ist auch mit einem Geländewagen das Maximum.

In einem kleinen Dorf angehalten und mit einer Frau gesprochen, die einen schönen alten Mercedes ihres Vaters fuhr; sie sagte, allein aus diesem kleinen Dorf seien schon 5 Männer als Soldaten an der Front gestorben.

Wylkowe das kleine ukrainische Venedig und andere ungenutzte Ferienorte an der Küste


Ein einsamer Ferienpark, Ausflugsboote säumen ungenutzt die Kanäle. Wir essen ein gut zubereitetes Mahl – allein im großen Pavillon.

Mit einem Mann gesprochen, der sagte, der Krieg sei sinnlos, alle möglichen Völker lebten in der Ukraine.
Und wenn der Krieg noch ein Jahr weitergehe gebe es keine Männer in der Ukraine mehr und alles sei erledigt.

Meine persönliche Sicht nach den wenigen Tagen: So wie ich die Ukraine bisher wahrgenommen habe, scheint mir das Land erledigt. Es werden nur noch halbherzig Rückzugsgefechte geführt. Selbst die patriotischen Plakate, welche überall hängen, sind meist verblichen, veraltet und abgeblättert.

Dann weiter an die Küste nach Prymorske, wie viele der kleinen Urlaubsorte in der Ukraine heissen.

Dort absoluter Totentanz.


Hunderte von Läden und Unterkünften leer, ein großer Freizeitpark mit Riesenrad, Karussell vergammelt und verrostet, ungenutzt seit Jahren.


Dann eine einzige Kneipe gefunden mit einem Tisch, an welchem 4 Ukrainer saßen, alle waren sturztrunken, haben uns eingeladen zu Wein, Schnaps, Fischsuppe.

Bezüglich des toten Ferienzentrums meinten sie, 2 Jahre Corona und dann der Krieg, da geht nichts mehr.
Es waren zwar Patrioten, welche immer noch hofften, dass die Ukraine erhalten bleibt, aber der Krieg wäre ein Bruderkrieg und ein Hahnenkampf zwischen politischen Machthabern, letztlich alle Slawen – russische Männer, die sich gegenseitig in der Ukraine bekämpfen.

Wir übernachteten im Zelt am Meer, dort waren diverse improvisierte Schützenstände für Übungen der ukrainischen Armee aufgestellt, in der Bar meinte man schon das wir nachts eventuell Besuch von der Armee bekommen würden.

Auf der Karte war eine kleine weiße Straße eingezeichnet, auf welcher man theoretisch von Prymorske über ein Haff nach Lyman gelangen konnte. Bevor wir dort hingelangten waren diverse Panzersperren aufgestellt. Dennoch gelang es uns durch umfahren auf das Haff zu gelangen.

Die Straße war ein Pfad, welcher wegen vorangegangenem Starkregen praktisch auch mit einem Geländewagen unbefahrbar war, aber das Haff war zur Innenseite mit leicht schrägen Betonplatten abgesichert, auf welcher wir dann auf die andere Seite polterten. Dort waren auch wieder Betonblöcke zur Absperrung platziert und ein einsamer Posten saß auf einem Wachtturm, der ganz erstaunt wahrnahm, wie wir mit dem Landrover näherkamen. Wir wechselten ein paar nette Worte und konnten weiterfahren.

Auffällig ist, dass fast sämtliche Ortsschilder demontiert sind, ebenso Straßenschilder, als ob man damit im Ernstfall eine Besetzung verhindern könnte.Wenn wir als Zivilpersonen mit Google Maps uns orientieren können, warum sollten eventuelle Besetzer dazu nicht in der Lage sein? Das ganze Verteidigungsspiel mit Betonblöcken und Panzersperren kam mir ein wenig kindisch vor.

Auf der anderen Seite des Haffs gabs überhaupt keine Straßen nichtmals mit wenigstens ein paar Teerresten. Die meisten Dörfer waren verlassen oder nur noch vereinzelt bewohnt. Wir kämpften uns von Lyman durch den Matschpfad bis zur größeren Straße hinter Tatarbunary durch; ein junges Mädchen schaute ganz erschrocken auf unser Fahrzeug und rannte weg.

Es befand sich dort auch ein Denkmal, eine Frauenstatue, aber keiner im Dorf wusste was sie zu bedeuten hatte, wann, wer, warum sie dort aufgestellt wurde.

Die sogenannte Hauptstrasse entpuppte sich als ebenso unbefahrbar wie zuvor; mit ca. 20 km/h hoppelten wir bei extremem Starkregen weiter, um einen nächsten Küstenort zu besuchen.

Kurortne, dort war schon der Zugang zum Meer gesperrt, ein unfreundlicher ukrainischer Soldat wies uns an umzukehren.

An einer anderen Stelle in Shabo trafen wir einen Mann, der im großen Stil Landwirtschaft betreibt, ein paar tausend Hektar und Getreide umsonst an die Armee liefert als Unterstützung, von seinen fünf Arbeitern sind drei an der Front, so dass er jetzt versuchen muss, mit den zwei verbliebenen auszukommen.Er denkt, dass es möglich sei, die Russen aus der Ukraine zu vertreiben.

Dann haben wir uns die Festung Belgorod angeschaut, in der Stadt fanden wir kein brauchbares Lokal zum Essen, der Verkäufer in der Pizzabude meinte, für 3 Pizzas müssten wir 1 ½ Stunden warten – nein, die Fahrt ging weiter nach Satoka, um über das nächste Haff den kurzen Weg Richtung Odessa zu nehmen. Daraus wurde aber nichts, die Militärposten hatten die Strasse abgeriegelt, keiner kam durch, also mussten wir wieder zurück und über Palanca Richtung Odessa fahren.

Es gibt keine Lösung, das ist der erste Satz, den wir Menschen verstehen müssten. Es gibt Möglichkeiten, Variationen, welche kurzfristig ein pragmatisch anvisiertes Ziel erreichen lassen.
Mit dem Erreichen wird eine Sucht stimuliert nach dem nächsten pragmatischen Ziel zu hangeln, ein Hamster im Rad. Dauerhaft lässt sich nichts sichern oder erreichen, und die einfachen Menschen sind Spielbälle in den Händen der Machthaber als Determinatoren.

Fortsetzung folgt!

6 Gedanken zu „Ukraine, eine Reise von der Propaganda zur Wirklichkeit Teil 2“
  1. Ich habe mit Interesse Gallmeisters ausführliche und mit Fotos versehenen Reiseberichte durch die gegenwärtige Ukraine gelesen. Am Schluss hat sich die kleine Reisegruppe verzankt – worüber eigentlich? Ich erinnerte mich an die ‚Freundschaftsreisen‘, die ich vor der ‚Wende‘ durch China, die DDR und durch Russland gemacht habe. Dort fuhren stets linksorientierte Personen mit, die sehr schnell Fraktionen bildeten und sich über ideologische Differenzen stritten, anstatt sich über das während der Reise Erlebte auszutauschen. Ihr Blick auf die Welt ging offenbar nur über die am Kopf festgewachsenen ideologischen Brillen. Reisen ‚bildet‘ oder wie wirklich ist die Wirklichkeit!?!
    Interessant wäre es, weitere Reiseberichte in das Hinterland anderer Ex-Sowjetstaaten zu lesen. Diese haben vielleicht vergleichbare Probleme wie die Ukraine sich zu demokratischen Staaten zu entwickeln nach jahrzehntelanger erzwungener Angehörigkeit zu einem Sowjetblock. Generell ist es hart inmitten eines wirtschaftlichen Kollaps eine Demokratie zu entwickeln mit Gewaltenteilung und den notwendigen Institutionen. Dieses Problem haben alle Sowjetstaaten. Geht es einem wirtschaftlich schlecht, dann sehnt man sich sehr schnell nach früheren, geregelten Verhältnissen zurück. Demokratie muss egal wo ständig erkämpft werden. Heute scheinen eher die Geschichtsmythen zu blühen als die alten linken Ideologien.

  2. Für die Photos hätte es genügt Aufnahmen zum Beispiel in Lettgallen zu machen: schlechte Straßen, vernachlässigte Infrastruktur …. Natürlich hätte man dort keine Ukrainer getroffen.

    1. Ich war nun oft in der Ukraine 2008, 2011,2015,2017, und ein Grund für Abspaltung des Donez und auch der Krim liegt in der Vernachlässigung der nicht um Kiew und Lwow gelegenen Gebiete, ganz extrem in der Ostukraine, da war selbst in Russland 2012 die Infrastruktur im Hinterland, z.B. Dagestan oder Kalmückien wesentlich besser. Also, das Problem ist und war durch korrupte Politker in der Ukraine zu einem Teil hausgemacht. In Latgale sah das zu Beginn ähnlich aus, hat sich aber in den letzten 10 Jahren gewaltig gewandelt weil man auch in den oberen Etagen begriffen hat, das wenn eine Region nicht wie andere Regionen gleichermassen unterstützt wird droht erst Bürgerunmut und dann eine Abspaltung.

  3. Danke für die Hintergrundinformationen. In Lettland war ich oft – auch im Hinterland – in der Ukraine noch nie. Wo man auch hinfährt in der Welt, genauer hinsieht und sich um Hintergrundsinformationen bemüht, ist es stets ähnlich: Geschichte verläuft nicht linear, sondern ist eher wie ein gewebter Teppich, dessen Fäden aber nicht auf einem Webstuhl so aufgezogen worden sind, damit sie ein ordentliches, geplantes Muster ergeben. Viele haben an einem solchen Teppich mitgewirkt, , Ideologen, Geistliche, in Mythen Verliebte, Ausbeuter, Kriegsherren … alle haben ihre Muster meist aufoktroyiert durchaus mit gewaltsamen Mitteln und Methoden. Wie kann man ein so großes Land wie die Ukraine, diesen komplizierten, jahrhundertealten Teppich verstehen? Gar die Ostukraine? Da kann es keine fertigen Meinungen geben, sondern nur Formen der Annäherung. Wo auch immer die Gebiete der Ostukraine integriert werden in ihrer Zerstörtheit, mit den dort lebenden traumatisierten Menschen‘, die dafür Verantwortlichen haben eine sehr, sehr schwere Aufgabe zu bewältigen.. .

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