Zubringer zur Südbrücke vor Plattenbauten des Rigaer Viertels Kengarags, diese und weitere Fotos. Udo Bongartz
„Du bist keine Schönheit…“ – der Mann, dem dies beim Rendezvous aus dem Munde entschlüpft, benötigt wohl gute Argumente und diplomatisches Geschick, um den Abend noch zu einem erträglichen Abschluss zu bringen. Dabei zählen doch, so behauptet es der bigotte Volksmund, nur die inneren Werte. Was für hässliche Frauen nicht falsch ist, gilt für unterschätzte Stadtviertel erst recht. Die Rigaer Wohngegend Ķengarags hat viele innere Werte. Was sollte ein Bewohner Ķengarags sagen, wenn dieses Viertel eine Frau wäre, die bei italienischem Rotwein im wachsgoldenen Kerzenschein auf der anderen Seite des mit weißen Spitzen gedeckten Tisches im dunkelroten Abendrot am Ufer der gleißenden Daugava säße? Lett-landweit macht`s möglich: Ķengarags, die Wohngegend, die noch nie einen Schönheitspreis bekommen haben dürfte, trifft sich mit seinem Bewohner zum Rendezvous – der ist entsprechend nervös und ringt um ungeschickte Worte, nach kurzem Geplänkel kommt die Wahrheit zutage:
Ķengarags: Was schaust du so deprimiert?
Bewohner: Ehrlich gesagt, es war ja ein Blind Date, seien wir ehrlich – Du bist keine Schönheit.
Ķengarags: Xуй немытый!
Bewohner: Sprich bitte kein Russisch mit mir!
Ķengarags: Ich spreche, wie es mir passt. Was fällt einem Bewohner ein, seinem Stadtviertel so etwas zu sagen?
Bewohner: Du hast mich einfach verlockt: „Verkehrsgünstig“ stand auf deinem Angebot, darauf bin ich hereingefallen.
Ķengarags: Stimmt das etwa nicht? „Verkehrsgünstig“ war nicht sexuell gemeint. Ich bin eine äußerst verkehrsgünstige Partie. Durch mich geht alles, was Riga aufbieten kann: Bus, O-Bus, Straßenbahn, Eisenbahn, Mikroautobusse und Taxis. Die O-Buslinie Nr. 15 sucht mich alle fünf Minuten heim. Na, Kleiner, welches andere Rigaer Viertel kann dir sowas bieten? Wo kannst du soviel Verkehr haben? Willst du noch einen Schluck Primitivo?
Bewohner: Ja gern, beim Saufen verstehen wir uns besser. Warum sind bei dir die Rigaer Busse und Bahnen im Dauereinsatz? Doch nur, um deine Insassen von dir fortzubringen. Weißt du, was du bist? Eine richtig monotone Schlafstadt. Du ödest mich an.
Ķengarags: хуйло! Dann geh, geh doch zu deinen Schönheiten, lass dich bezirzen und ausnehmen von deiner Alberta Iela.
Bewohner: Rühr nicht an meinen wunden Punkt. Ja, Alberta Iela, die schönste aller Jugendstilstraßen war und ist meine große Liebe. Aber sie ist nur den solventen Herren zugeneigt – ich bin ruiniert, durch Alberta Iela Leibeigener der Banken. Aber ich bereue nichts. Die Nächte mit und in der Alberta Iela waren die schönsten meines Lebens. Wieso kennst du meine Alberta Iela?
Ķengarags: хуй моржовый! Alle Bewohner gehen ihr auf dem Leim, da bist du keine Ausnahme. Die Bewohner glauben, sie sei kultiviert, gebildet, mit Geschichte und so – dabei ist es nur Zaster, der sie heiß macht. Alberta Iela mit ihren Botox-Fassaden. „Bewohner umschwärmen sie wie Motten das Licht.“
Bewohner: Bitte noch einen Primitivo. Beim Saufen kommen wir uns bestimmt näher. Ich mag deine offene Art, Ķengarags. Und unter den erschwinglichen Wohngegenden bist du immer noch die Schönste, deine Freundin Ziepniekkalns ist noch viel hässlicher.
Ķengarags: Jetzt übertriff dich mal nicht selbst in deinem deutschen Charme. Gut, dass wir wenigstens in unserem Weingeschmack übereinstimmen. Mit anderen Bewohnern trinke ich natürlich richtigen Alkohol, keine südeuropäischen Softgetränke. Aber der Primitivo hat was, eben ein knackiger Italiener.
Bewohner: Ja, von sowas träumst du! Hoffe mal nicht darauf, dass dich jemals ein Italiener bewohnt und beglückt, der Italiener hat einfach zuviel Geschmack, um sich mit dir abzugeben. Aber mir liegt deine prollige Art, komm`, proste mir zu.
(nach einer Pause)
Bewohner: Du, Ķengarags!
Ķengarags: Was denn?
Bewohner: Weißt du, was das Schlimmste an dir ist?
Ķengarags: Ich dachte, ich wüsste es schon…
Bewohner: Das Schlimmste ist ja nicht, dass du scheiße aussiehst. Das Schlimmste ist, dass du kein Herz hast. Dort, wo bei anderen Gegenden ein Herz ist, hast du nur sowas wie eine Schlagader. Die Moskauer Straße, eine vierspurig lärmende Ausfallstraße mit Fahrbahnteiler, ist dein Zentrum. Dort erledigt man sein Geschäft so schnell, wie man es nur erledigen kann. Von Einkaufsparadies keine Spur. Diese kommerzielle Sprödigkeit ist dann wiederum sympathisch. Du bietest nur das Nötigste feil: Discount-Fressalien, Second-Hand-Klamotten, Heimwerkerbedarf, das gefällt mir an deiner Herzlosigkeit.
Ķengarags: Xуй не стоит!
Bewohner: Bitte kein Russisch! Weißt du eigentlich, in welchem Land du dich befindest? Nicht jeder, der deine Lieblingssprache nicht versteht, ist Faschist.
Ķengarags: Sieh an! Das deutsche Schulmeisterlein spielt lettische Sprachpolizei. Sei doch ein bisschen tolerant. Ich bin echt multikulturell, gebildet, bei mir wimmelt es von Schulen, nicht nur russische, auch eine litauische…
Bewohner: In deiner Jugend sollst du mal eine echte Schönheit gewesen sein, so kurz nach der Eiszeit, schreiben deine Biographen. Es gab einen Stamm von Fischern und Jägern, die in kleinen Hütten an einem Horn lebten, das in die Daugava ragte. Daher sollst du deinen Namen haben. Doch diese Idylle ist längst verschwunden, nichts davon ist geblieben, nicht mal das Horn. Wie konntest du dich nur so verschandeln lassen?
Ķengarags: 1208 eroberten mich deine Vorfahren, die Teutonen, im Sturm. Das waren noch ganze Kerle, geile Recken, die kannten nur Kämpfen und Saufen im Namen Gottes. Das waren nicht so warm verduschte deutsche Weicheier, wie du eines bist. Das waren Schwertbrüder, sie schenkten mir eine steinerne Festung und eine Mühle dazu. Dieses Geschmeide zierte mich sehr. Ich wurde immer attraktiver für Bewohner.
Bewohner: Typisch Stadtviertel, lässt sich von den Mächtigen erobern und schmücken. Die Last tragen die Bewohner. Du lobpreist bestimmt die Zisterzienser, die sich auf dich breitmachten, als zivilisatorischen Fortschritt, viel Dreifelderwirtschaft, Ackerbau und Viehzucht und so. Aber wer musste für das klerikale Adelspack in Mönchskutte sorgen? Natürlich deine Bewohner, die lettischen Bauern.
Ķengarags: Werde nicht so rot und wütend, Schulmeisterlein, der Sozialismus ist vorüber. Ob feudale Mönchskutte oder kapitalistisches Business-Kostüm, Herrschaft bleibt im neuen Gewande. Trink, Brüderchen, du wirst die Welt und mich nicht ändern.
Bewohner: Die Ruinen des Guts Mazjumprava bezeugen, wie du dich an die hohen Herren herangemacht hast. Das ist dir nicht bekommen, du siehst verlebt aus…
Ķengarags: Verlebt machten mich deinesgleichen, die Bewohner. Bei mir wohnen mehr als in ganzen Staaten, fast 50 mal mehr als im Vatikan. Ihr machtet mich fett, als die Industriebarone ihre Fabriken errichteten. Da kamt ihr Bewohner in Scharen und wolltet bei mir gutes Geld verdienen. Damals wurde ich ein Arbeiterviertel. Ich stellte Porzellan, Leinenwaren, Gummi her. Meine Firmen hatten sexy Namen wie „India Rubber Company Quadrat“.
Bewohner: Endgültig verschandelt wurdest du in der Sowjetzeit.
Ķengarags: Was willst du? Gerechte Herrschaft? In meinen Plattenbauten, den Chruschtschowkas und Breschnewkas hattet ihr erstmals fließend warmes Wasser. Im Winter musstet ihr mit meiner Fernheizung nicht mehr frieren, wenn eure senilen Wichsgriffel das Beil zum Holzhacken nicht mehr halten konnten.
Bewohner: Wir wurden in deine Arbeiterschließfächer gesteckt und eingesperrt, die O-Buslinie 15 wurde unser Fluchtfahrzeug.
Ķengarags: Jetzt bist du frei, kannst mit dem O-Bus hinfahren, wohin du willst. Du kannst gehn, wenn es dir bei mir nicht passt.
Bewohner: Ich bleibe. Das Wohnen bei dir ist alternativlos. Du bist bezahlbar und drohst mir nicht mit Gentrifizierung. Obwohl du nicht mehr viel zu bieten hast, weder Idylle noch Lohn. Deine neuen Freunde im Business–Outfit eroberten dich und schlossen deine Fabriken. Aber wir bleiben hier, genießen die Beschäftigungslosigkeit mit richtigem Točka-Fusel unter deinen schattigen Bäumen. Besonders schön bist du dort, wo du dein Ende findest, am Ufer der Daugava, wo du dich mit deiner Promenade noch mal so richtig herausgeputzt hast. Hier lohnt es sich zu leben, um sich so manches Schlückchen Hochprozentiges einzuverleiben, die schläfrigen Katzen zu kraulen und sich darüber zu freuen, von den Betreibern des Hamsterrads gekündigt worden zu sein. Was pfeift da von fern?
Ķengarags: Ein blau qualmender Taigatrommler auf meiner Rückseite beginnt seine lange Reise in die sibirische Nacht. Komm` trinken wir noch ein Glas und machen dann Schluss, morgen ist auch noch ein Tag.
Bewohner: Prost! Uz Veselību!
Ķengarags: бу́дем здоро́вы!