Do. Apr 18th, 2024

Ukrainischer Fahnenschmuck am lettischen Nationaldenkmal in Riga, Foto: Udo Bongartz.

Hochmütige Zuchtmeister im Zentrum der Entscheidungsfindung, ein Kommentar.

Kritik von Verbündeten brauchen Polen und Balten nicht zu fürchten. Sie haben die Sowjetunion erlebt, als ihr erzwungener Teil oder als Satellitenstaat, das schafft Respekt und Anerkennung. Die Repressionen des stalinistischen Regimes prägen bis heute die mittelosteuropäische, antibolschewistisch geprägte Erinnerungskultur. Politisch und historisch ist ihr Misstrauen gegen alles, was aus Russland kommt, verständlich. Doch es sind Reaktionen traumatisierter Bevölkerungen, bzw. von Politikern, die in deren Namen handeln und daraus Profit schlagen. Seit 2014 betätigen sich Polen und Balten im Konflikt mit Russland als Scharfmacher. Nun fordern sie, dass die Ukraine NATO-Mitglied wird – ein weiteres Hindernis für Verhandlungen.

Der estnische Parlamentspräsident Lauri Husars traf sich am 3. Mai 2023 mit seinem lettischen Kollegen Edvards Smiltens in Riga. Husars strickte am Narrativ der friedlichen NATO in der Schwarz-Weiß-Malerei, wie sie in den Öffentlichkeiten jener Länder mittlerweile üblich ist: “Wir müssen klarmachen, dass die NATO ein verteidigungsorientiertes Bündnis ist. Und das ist das wichtigste Bündnis, das imstande ist, uns gegen das Böse zu schützen. Ein größeres und stärkeres Bündnis ist im Interesse aller, das unseren Kontinent auch sicherer machen wird.” (lsm.lv) Smiltens sekundierte und kündigte die Absicht seines Landes an, mit Polen und den baltischen Nachbarn für den kommenden NATO-Gipfel in Vilnius eine gemeinsame Erklärung zu formulieren. Die Osteuropäer werden fordern, die Ukraine in das Militärbündnis aufzunehmen. Der lettische Parlamentsvorsitzende tönte mit dem neuen Selbstvertrauen der östlichen EU-Länder, die sich seit dem 24. Februar 2022 als bis dahin überhörte Mahner im Recht wähnen: “Gemeinsam mit Polen sind wir eine laute, kräftige Stimme, die ukrainische Interessen vertritt und zu überzeugen, zu argumentieren oder auch andere Staaten diplomatisch zu zwingen versucht, nach dem Beispiel der baltischen Länder und Polens zu handeln. Darauf haben wir uns auch mit der Ukraine verständigt.”

Wie eine pauschalisierend benutzte Sprache die Dinge vereinfacht. Baltische und polnische Politiker agieren nicht im Sinne “der” Ukraine, sondern erfüllen den Willen der nationalistischen und Minderheiten assimilierenden Regierung von Wolodimir Selenski. Die Nähe zu ihr basiert auf gemeinsame Haltungen. Auch in Lettland betreiben Nationalkonservative die Assimilierung der russischsprachigen Minderheit, um eine monoethnische Nation zu schaffen, die Lettland nie war (LW: hier). An der NATO-Ostflanke stellen Politiker und Journalisten den 24. Februar 2022 als Beginn des Krieges dar. Der Angriff Russlands war völkerrechtswidrig und hat das menschliche Leid vervielfacht; doch lange vorher starben Menschen und brannten Häuser. Die Kiewer Regierung, flankiert von rechtsextremistischen Truppenteilen, bekämpfte seit 2014 die eigene Bevölkerung im Donbas, die das, was im Westen als emanzipatorische “Maidan-Bewegung” verklärt wurde (von grünen Abgeordneten, dem sogenannten “Zentrum liberale Moderne” und ähnlich fragwürdigen Think Tanks), als Putsch von Nationalisten erachteten. Wann berichtet mal ein westlicher Journalist von der anderen Seite? Vielleicht stellte sich dann heraus, dass in Donezk und Luhansk nicht nur von Russland eingeschleuste “Terroristen” hausen, sondern vor allem Leute wohnen, die mit dem Verbot linker Parteien, nationalistischer Sprachenpolitik, EU-und NATO-Integration sowie Bandera-Kult nichts anzufangen wissen.

Solche, die eigene Überheblichkeit mäßigenden Vorgeschichten bedeuten im von Polen, Balten, Briten und US-Amerikanern beherrschten Diskurs ein Orwellsches Gedankenverbrechen, das medial nicht stattfindet. Statt dessen hagelt es Belehrungen. Beispielsweise von Artis Pabriks (bild.de), bis zur Wahl im letzten Herbst lettischer Verteidigungsminister. Seit dem russischen Angriff züchtigt er mit markigen Sprüchen die Deutschen, denen er Nachkriegspazifismus und mangelnden Sinn für Abschreckung vorhält. Solche und ähnliche Darbietungen führten zum raschen Umfallen der neuen, unerfahrenen deutschen Regierung, die Willy Brandts Entspannungspolitik über Bord warf und seitdem von “Zeitenwende” faselt. Die osteuropäischen Zuchtmeister rennen im Westen offene Türen ein. EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola lobte bei ihrem Besuch in Riga das Baltikum als “Zentrum der Entscheidungsfindung” und Annalena Baerbock, die ebenfalls die Aufwartung machte, bekannte, viel von der lettischen Regierung lernen zu wollen.

Soviel Masochismus war selten. Dabei ist die eingeschlagene Richtung brandgefährlich. Letten bekunden Selenski Treue bis zum Endsieg, bis zur Rückeroberung der Krim, egal, was es koste und drohe. Doch manche Balten erträumen nicht nur das: Sie spekulieren bereits über eine Zerteilung Russlands im Namen der “kolonisierten Völker”. Um solche abenteuerlichen Ziele zu erreichen plädieren sie für noch mehr Waffen, noch mehr Sanktionen und bezichtigen jeden, der noch differenzierte Auffassungen hat. Auch befinden sie sich in erster Reihe, wenn es darum geht, ein internationales Tribunal gegen Putin und Russland zu fordern. Überfällt manchen Politikern aus dem baltischen Establishment nicht die Furcht, einmal selbst vor einem solchen zu stehen, weil man für die Beteiligung des eigenen Landes an den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA gegen den Irak die Hand hob?

Solche Forderungen treiben zur Schlacht bis zum Endsieg. Mit dem Bösen lässt sich schließlich nicht verhandeln, es muss bekämpft und vernichtet werden. Diese Kriegspolitik kann nicht im Interesse der ukrainischen Bevölkerung erfolgen, für die ein sofortiger Waffenstillstand, so behaupte ich, segensreicher wäre als eine jahrelange Eroberungsschlacht um die Krim mit unabsehbaren Folgen. Es wird Zeit, dass sich die gemäßigteren Länder in der EU, Frankreich, Italien und Deutschland, zusammentun und diesem Kriegskurs den Stopp der Waffenlieferungen, das Ende unsinniger Sanktionen und Verhandlungsforderungen entgegenhalten. Mag die EU, wie von Pabriks drohend prognostiziert, am pazifistischen Unwillen der Westeuropäer zerbrechen – baldiger Frieden wäre wichtiger.

4 Gedanken zu „Balten und Polen zündeln weiter: Ukraine soll in die NATO“
  1. “Baltische und polnische Politiker agieren nicht im Sinne “der” Ukraine, sondern erfüllen den Willen der nationalistischen und Minderheiten assimilierenden Regierung von Wolodimir Selenski.”
    Was ist die Ukraine? Ein Völkergemisch wie mittlerweile überall auf der Erde

  2. Ich kann kein Blaugelb mehr sehen.
    Oben steht “Dem Vaterland und der Freiheit”, und darunter pflanzt man blaue und gelbe Blümchen.
    Wer oder was ist diese [GESPERRT]-Ukraine?

  3. Hallo Herr Bongartz,
    diese Einschätzung des Konflikts in der Ukraine ist wichtig, damit ansatzweise die Diskussion ausgewogen weiter geführt werden kann.
    Die Bevölkerung hat die beiden Weltkriege nicht kommen sehen. Dann kamen sie. Es ist dringend geboten, mit Russland zu sprechen. Was um Himmels Willen soll uns daran hindern? Ablehnen und aussteigen können die Verhandlungsparteien immer. Bitteschön: Sie tragen dann noch das Argument nach Hause, dass es versucht wurde. Aber versuchen sollten sie es.
    Was Deutschland angeht: Frappierend hat die grüne Partei ihre Grundsätze aufgegeben. Im Wahlkampf posierte A. Baerbock auf den Plakaten mit dem Slogan “Keine Waffen in Kriegsgebiete!” – Darunter: “Bereit, weil ihr es seid!” Jetzt sind sie bereit. Bereit für den totalen Krieg. Hofreiter fabuliert im deutschen Fernsehen über die Kampfstärke der Waffen, die Deutschland zu liefern habe. Welch ein Trauerspiel, wie tief sinken Politiker, die keine Kenntnis von dem haben, was sie vorbringen, und dennoch siegessicher heraustrompeten. Welcher Sieg? Alle US-Konflikte, die wir in den vergangenen 25 Jahren erlebt haben, haben Deutschland zum Verlierer gemacht. Was haben uns die Kriege in Kosovo, Afghanistan, Syrien, Libyen eingebracht? Millionen Flüchtlinge (Geflüchtete, Schutzsuchende – hier wechselt ja ständig die Diktion). Jetzt also die Ukraine. Gut, dass Deutschland den verängstigten Leuten hilft. Nichts, rein nichts legitimiert einen Militärangriff irgendwo in dieser Welt. Beenden können dieses Leid nur Verhandlungen.

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