Do. Mai 2nd, 2024

Was ist ein Erzähler? Diese scheinbar naive Frage beantworten Erzählforscher recht komplex. Der Erzähler einer fiktionalen Geschichte ist jedenfalls nicht identisch mit dem Autor, sondern wird von diesem als eine eigene Instanz konstruiert. Das weiß eigentlich jeder, denn wenn ein Ich-Erzähler eines Romans im selbigen bekennt: „Ich habe gemordet“, käme kein vernünftiger Leser auf die Idee, die Polizei anzurufen, um den Autor verhaften zu lassen. Dennoch verstoßen Biographen zuweilen gegen das literaturwissenschaftliche Gebot, zwischen Erzähler und Autor strikt zu trennen, gerade dann, wenn offensichtlich große Ähnlichkeiten, ja Identitäten zwischen den Ansichten und Erfahrungen eines Erzählers und des Autors bestehen. Tatsächlich benutzt Vegesack sein eigenes Leben als Romanvorlage. In seinem erfolgreichsten Werk Baltische Tragödie, das zwischen 1933 und 1935 im Deutschen Reich erschien, ist der Lebenslauf der Romanfigur Aurel von Heidenkamp mit der Kindheits- und Jugendbiographie des Autors Siegfried von Vegesack weitgehend identisch: Wie Siegfried wächst Aurel behütet in deutschbaltischen Adelskreisen des Blumbergshofs in der Nähe von Valmiera auf, erlebt die Distanz zwischen der eigenen Oberschicht, dem lettischen Dienervolk und der russischen Staatsgewalt, die spätere Feindschaft zwischen den Volksgruppen und die rohe Gewalt der Revolution von 1905. Doch gerade in einem solchen Fall sind die Unterschiede zwischen historischer und fiktionaler Geschichte von literaturwissenschaftlichem Belang. Jeder belletristische Text ist eine unabhängige fiktive Welt, die sich nicht vollständig der historischen Realität unterordnet. Mögen die Bezüge zur Realität noch so offenkundig sein, im Roman wirken autonome Gestaltungsprinzipien. Selbst die Prosa des Realismus verdoppelt nicht lediglich die Wirklichkeit, zumindest muss sie fokussieren, selektieren, Figuren inszenieren und ihre Gedanken und Gefühle als innere Vorgänge erfinden, welche man in der Realität nur erahnen, aber niemals vollständig erkennen kann. Nicht zuletzt soll fiktive Literatur unterhalten, also einen erzählerischen Spannungsbogen enthalten, den der Leser in seinem langweiligen Alltag oft vermisst.

Gegen das Gebot, Erzähler und Autor, Leben und Werk getrennt zu betrachten, verstößt auch Vegesack-Biograph Franz Baumer, der 1974 die Lebensbeschreibung Heimat im Grenzenlosen vorlegte. Diese hat keinen kritischen, literaturwissenschaftlichen Anspruch. Franz Baumer schreibt als Freund und Verehrer. Sechs Jahre nach dem Höhepunkt der Studentenbewegung veröffentlichte er im Todesjahr Vegesacks diese Würdigung, die den deutschbaltischen Schriftsteller als aufrechten individualistischen Nazi-Gegner darstellt. Der Biograph schildert, wie Vegesack, der sich die bayrische Ruine Weißenstein zur Fluchtburg erwählt hatte, nach der NS-Machtergreifung für drei Tage verhaftet wurde. Er hatte dagegen protestiert, dass Nazis auf seiner Burg das Hakenkreuz gehisst hatten. Die erfolgreichen Schriftstellertage waren für Vegesack in den siebziger Jahren passé. Man kann annehmen, dass nur wenige Literaterwissenschaftler sich näher mit seinen Büchern beschäftigt haben, zumindest ist Forschungsliteratur nur spärlich publiziert. Nach 68 ignorierten die Germanisten die Autoren der „Inneren Emigration“ weitgehend. Der Begriff galt als Vorwand für Mitläufertum. Für Studenten bestand die deutschsprachige Literatur der Jahre 33 bis 45 vorrangig aus Exilliteratur, sieht man von Erich Kästner oder Gottfried Benn einmal ab. Der Name Vegesack war in den siebziger Jahren eher ein Fall für Spezialisten. Baumers Biographie will ihn im kollektiven Gedächtnis unterbringen. Seine Lobrede macht aus dem Adelssohn einen aufrechten linksliberalen Demokraten, dem totalitäre Ideologien, ob NS-Volksgemeinschaft oder kommunistisches Kollektiv, ein Gräuel sind. Während die Figur Aurel im Ersten Weltkrieg in Lettland bleibt und beschließt, in der deutschbaltischen Landeswehr für die Vormacht des Adels zu kämpfen, dabei in seiner Gesinnung immer patriarchalischer, antiliberaler und militaristischer wird, lebt der reale Siegfried in Berlin, schreibt demokratische Artikel. Das wird im Roman spöttisch vermerkt:

„„Nein, dieser Artikel im `Berliner Tageblatt` ist schon unerhört!“ fuhr Graf Bork nach einer Weile fort: „Was ist denn das für ein Kerl? Nennt sich `Hans Vorst`. Für Schaffung eines vollkommen unabhängigen baltischen Staates unter `internationaler Garantie` – `Schicksalsstunde der baltischen Provinzen` – was für ein Quatsch! Und der gute Rohrbach schreibt, daß man die Letten und Esten zur Selbstverwaltung heranziehen soll! Na, von einem Demokraten kann man nichts Vernünftiges erwarten. Daß aber ein livländischer Edelmann sich dazu hergibt, für diese Kullen in Berlin Propaganda zu machen, und sich bemüßigt fühlt, uns den albernen Rat zu geben, wir sollten uns mit diesem Pack verständigen` – das ist schon die Höhe! Was mag das für ein Vegesack sein? Sitzt in Berlin und will uns belehren. Na, der Landmarschall hat an den baltischen Vertrauensrat geschrieben und die Weiterverbreitung des Artikels streng untersagt. Diese Grünschnäbel, die von den Verhältnissen hier überhaupt keine Ahnung haben… Prost!““ (Baltische Tragödie, S. 498)

Der dritte Teil der Prosatragödie, der Totentanz in Livland, der die augenfälligsten patriotisch-konservativen Bekenntnisse enthält, beruht also auf Fiktion: Aurel und Siegfried gingen längst getrennte Wege. Und Baumer verzeichnet noch mehr auf Vegesacks demokratischer und antifaschistischer Habenseite: Er schrieb für die linke Zeitschrift Weltbühne, besuchte Kurt Tucholsky in Paris und beherbergte sogar für zwei Monate Erich Mühsam auf seiner bayrischen Burg. Der anarchistische Schriftsteller war Mitbegründer der nur kurz währenden Münchener Räterepublik gewesen. Mühsam war einer der ersten, den die Nazis nach der Machtergreifung in „Schutzhaft“ nahmen und bereits 1934 im KZ ermordeten. Ab 30.7.1934 mussten Schriftsteller, die im Deutschen Reich noch publizieren wollten, Mitglied von Goebbels` Reichsschrifttumskammer werden, eine Art Zensurbehörde, die den Ariernachweis verlangte und die Gesinnung überprüfte. Baumer zitiert aus einem Manuskript des Autors:

„„Auf Dyngön erreicht ihn aus Berlin der Fragebogen der `Reichsschrifttumskammer`, in die der alte Schutzverband deutscher Schriftsteller sich verwandelt hatte. Vegesack sollte das Formular ausfüllen. Er stößt aber neben den allgemeinen Fragen zur Person auf eine Stelle, mit der er sich nicht einverstanden erklären kann: „Ich erinnere mich noch genau an den Wortlaut dieser Erklärung. Sie lautete: `Ich erkläre hiermit, daß ich stets für die Deutsche Dichtung im Sinne der Nationalen Regierung eintreten werde.` Ich sollte mich also verpflichten, über die deutsche Dichtung genau die gleiche Ansicht zu haben, wie die sogenannte `nationale` Regierung. Kürzlich hatte Göring in einer Rede erklärt, daß Wedekind kein Dichter gewesen sei. Ich sollte also über Wedekind und die deutsche Dichtung genau so denken wie Göring. Das war mir unmöglich. Ich schrieb nicht die Erklärung, strich sie aus, und schickte den Fragebogen an die Reichsschrifttumskammer nach Berlin zurück.““ (Baumer, S. 102)

Auch dem späteren Drängen der Nazi-Zensoren, die fragliche Erklärung zu unterschreiben, habe Vegesack nicht nachgegeben. Dennoch dürfte ihm die Veröffentlichung der Baltischen Tragödie im Dritten Reich inhaltlich keine größeren Schwierigkeiten bereitet haben (Baumer erwähnt Verzögerungen aufgrund des Streits mit der Reichsschrifttumskammer). Hier folgen Zitate aus dem dritten Teil, dem Totentanz in Livland, die NS-Ideologen gewiss zupasskamen.

Während seine Brüder in den Ersten Weltkrieg ziehen, muss sich Aurel mit der Hasenjagd bescheiden. Die Augenverletzung, die er sich bei der Mensur zuzog, hinderte ihn am Eintritt in die Zarenarmee, wozu er sich aus `Vasallentreue` zunächst verpflichtet sah. Er fühlt sich vom Weltgeschehen ausgeschlossen und bedenkt die Historie seiner deutschbaltischen Landsleute, die ein siebenhundertjähriges Ausharren bedeutet habe. Er sieht sie, die doch einst als Fremde das Land eroberten und sich Einheimische zu Dienern machten, als Opfer, die von Nachbarn angefeindet wurden. Der Stolz, Verteter einer überlegenen Kultur zu sein, klingt an, aber auch die Klage über Trägheit und Passivität, die die Wehrkraft schwächt. Dabei verpflichtet das überlieferte Ritterpathos zum Heldentum. Der Erzähler gibt den inneren Monolog Aurels wieder:

„„Welch ein Held! Jagst hier Hasen, während andere ihr Leben opfern. Vertreibst mit Kindereien die Zeit, faulenzt, läßt es dir gut gehen. Bist wider ganz in dein träges baltisches Fell hineingekrochen. Aber was zum Teufel, soll ich denn tun? versuchte er sich zu rechtfertigen: von diesem Krieg, von allem, was da draußen geschieht, bin ich ausgeschlossen. Uns Balten bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als die Hände zu falten und die Daumen umeinander zu drehen. Abwarten, ausharren – immer dies langweilige „Ausharren“, auf das wir so furchtbar stolz sind. Siebenhundert Jahre haben wir nun glücklich „ausgeharrt“ – auf dem äußersten Posten deutscher Kultur im Osten“ – wie es so schön heißt, sind von den Polen, den Schweden, den Russen, den Litauern, Letten und Esten abwechselnd gepiesackt worden – aber wir sitzen da und harren aus – eine großartige Beschäftigung. Und wenn die Welt einmal untergehen sollte, wir Balten werden sicher die Letzten sein: wir werden ganz einfach ausharren! Also bitte sehr: was soll ich tun?““ (Baltische Tragödie, S. 420)

Im strengen Sinne des Begriffs ist das gerade Zitierte kein innerer Monolog, denn ein solcher ist nicht als Gedankengang einer Figur gekennzeichnet. Hier hingegen deutet der Erzähler mit dem Einschub „versuchte er sich zu rechtfertigen“ an, dass er das Denken der Hauptfigur wiedergibt. Zwischen dem Erzähler, der nicht am Geschehen beteiligt ist, und der Hauptfigur bemerkt man keine ideologischen Unterschiede. In ihrer Gesinnung sind sie identisch. Die Übergänge zwischen Erzähler-Kommentaren und den Gedanken Aurels sind fließend. Der Erzähler hat lediglich die Funktion, auf die mentale Entwicklung des Protagonisten zu fokussieren. Er widerspiegelt Aurels Ansichten und deren Veränderungen, vom Kleinkind, das noch Mitgefühl mit anders gearteten Menschen empfindet bis zum jungen Erwachsenen, dem ein militanter Charakterpanzer andressiert wurde. Eine kritische Distanz des Erzählers zur ritterlich-konservativen Mentalität dieses deutschbaltischen Adelskreises ist nirgends erkennbar. Eine solche wäre in einem Roman, der im NS-Reich erschien, kaum möglich gewesen. Ob Vegesack den Roman unter anderen politischen Umständen anders konstruiert hätte, bleibt Spekulation. Die Sprache des Erzählers nähert sich im Verlauf des Dreiteilers mehr und mehr dem NS-Jargon von Blut und Boden, inklusive jugendlicher Kriegsbegeisterung. Der deutschbaltische Ritter koppelt sein Pferd an der Potsdamer Garnisonkirche an, in welcher der nationalkonservative Zeitgeists waltet. Zuletzt kann Aurel doch noch seine Kampfkraft unter Beweis stellen. Er wird in der Baltischen Landeswehr aufgenommen, das letzte Aufgebot seiner Landsleute gegen Russen, Bolschewiken, Esten und Letten:

„Das unruhige kampffrohe Blut der Väter rief – durch viele Jahrhunderte, durch viele Geschlechter war es nun im Jüngsten, im Letzten wieder zum Durchbruch gekommen. Dort ritt er, auf einem zottigen Gaul, den er sich verschafft hatte, in der Kavalerie-Abteilung der Kompanie Rahden, in einem grauen, schmucklosen Rock mit flacher Schirmmütze – und doch ein Ritter. Und weiter hinter stapfte das Fußvolk im Schnee, ein Trupp Landsknechte, Ritter und Landsknechte – vor einem halben Jahrtausend waren sie so durch das Land gezogen, und nun hat die Stunde sie wieder gerufen.“ (Baltische Tragödie, S. 515 f.)

Kriegspropagandistisch listet der Erzähler Heldentaten der eigenen Volksgruppe und die Untaten der Feinde. Der Russe hat historisch zwei Missionen: Heeren und Brennen, was Archivar Rembert dem Geschichtsstudenten Aurel belegt. Der Kampf gegen diese Unchristen ist ein Kampf für das Gute, das Beste:

„„Onkel Rembert hat Aurel einige Schriften aus dem Archiv geschickt, alte verstaubte Bände, in denen er nun herumschmökert. Es sind nur kurze Berichte und Briefe des Ordensmeisters an die Hansastädte, die Herzöge und Fürsten, an den Reichstag zu Worms und Mainz, Urkunden, fast ein halbes Jahrtausend alt, aber wie unheimlich lebendig und gegenwärtig sind die Worte gerade jetzt: „Betrachtet des Großfürsten zu Moskau seine Macht, und dieser Lande Armut und Schwachheit! Die Russen heeren und brennen und treiben übrige große und merkliche Gewalt mit dem Christenblute… Wenn diese Lande verheert und verdorben werden, wäre ein solches nicht alleine unser Schaden, sondern gegen das gemeine Beste!““ (Baltische Tragödie, S. 481)

Die Briten erweisen sich als eiskalte Geschäftsleute, die abziehen, wenn es am Krieg nichts mehr zu verdienen gibt:

„Aber dann, am nächsten Tag in aller Frühe, dampften auch die Engländer ab. Was kümmerte sie das Schicksal dieser fremden Stadt, dieser Balten, Letten und weiß der Teufel was für Völker – mögen sie selber sehen, wie sie mit den Bolschewiken fertig werden.“ (Baltische Tragödie, S. 516)

Selbst die reichsdeutschen Verbündeten erliegen der roten Gefahr und sind für den gemeinsamen antibolschewistischen Kampf verloren:

„Als Aurel am nächsten Tag beim Großen Krug vorbeiritt, stand dort ein Haufen deutscher Soldaten vor der Schnapsbude. Einer schwenkte ein rotes Fähnchen, und die anderen grölten irgendein Lied. Ein paar lettische Burschen sahen belustigt zu. deutsche Soldaten mit roten Lappen! Das war ein schmerzlicher Anblick.“ (Baltische Tragödie, S. 510)

Bruder Balthasar, der fanatischer als Aurel ist und die verbreiteten deutschen Großmachtfantasien verkündet, sieht für ein lettisches Natiönchen keinen Platz. Der Lette revanchiert sich mit Undank und Dünkel dafür, dass ihm sein deutscher Herr die Kultur brachte. Für sogenannte `Randstaaten` ist kein Raum vorgesehen, dieser gehört den Großmächten:

„„Natürlich muss die Unterrichtssprache Deutsch sein“, erklärte [Balthasar], der im Auto aus Riga herübergekommen war: „Wer nicht Deutsch lernen will, der kann ja nach Rußland auswandern. Wir wollen niemand halten. Um so mehr Platz haben wir dann für deutsche Bauern.“ „Aber man hat doch den Esten und Letten das Selbstbestimmungsrecht zugesichert?“ meinte die Mutter. „Das ist ja gerade unser Verdienst um diese Völker, daß wir niemals den Versuch machten, sie einzudeutschen. Im Gegenteil: unsere Pastoren und Gelehrten, wie der alte Bielenstein, haben erst die nationale Kultur der Letten ins Leben gerufen und gefördert…“ „Und ihren Dünkel großgepäppelt!“ fiel Balthasar der Mutter heftig ins Wort. „Damit muß jetzt Schluß gemacht werden. Für Miniaturnatiönchen und -kultürchen gibt es keinen Raum. Selbstbestimmungsrecht? Jeder Kulle kann ja selbst bestimmen, was ihm lieber ist: hierbleiben und deutsch werden – oder bei den Bolschewiken verrussen. Ein Drittes gibt es nicht!““ (Baltische Tragödie, S. 407)

Balthasars Großmachtfantasie ist eine vorgestellte Meinung. Der Erzähler zeigt eine gewisse Distanz zu ihr. Er weist darauf hin, dass viele so wie Balthasar dachten und erklärt solche unversöhnlichen Anschauungen mit den deutschbaltischen Erfahrungen. Gerade die junge Generation sei über die Ereignisse von 1905, als lettische Bauern die Herrenhäuser in Brand steckten, verbittert gewesen.

Der deutschbaltische Edelmut und christliche Todesverachtung treibt den sadistischen Bolschewiken in die Verzweiflung, denn er wird um seinen Hauptspaß gebracht, nämlich sich am Jammern und Schaudern der Opfer zu vergnügen. Das Morden unter solchen Umständen befriedigt nicht:

„„Von dieser unangreifbaren Kraft erklärte einer der schlimmsten Bolschewikenführer in einem Ausbruch ohnmächtiger Wut: „Man kann an diese deutschen Balten nicht herankommen! Man nimmt ihnen alles – sie klagen nicht. Man treibt sie aus ihren Häusern – sie gehen schweigend. Man führt sie in die Gefängnisse, ja, treibt sie in den Tod – ohne Klage und gefaßt gehen sie auch da hinein. Es ist, als umgäbe sie ihr Christentum wie eine Mauer, über die man nicht hinüberkommt!““ (Baltische Tragödie, S. 545)

Die besondere Abneigung gegen rote Flintenweiber, den Klaus Theweleit in der Soldatenliteratur des Ersten Weltkriegs feststellte, ist auch in der Baltischen Tragödie präsent. Theweleit interpretiert ihn als männliche Verachtung der Frau und Furcht vor der verschlingenden, entgrenzenden Sexualität, gegen die sich der Mann mit Uniformierung und Charakterpanzerung zur Wehr setzt. Die Welt wird bolschewistisch auf den Kopf gestellt. Alte Herren müssen nun unter weiblicher Aufsicht die unrühmlichen Aufgaben übernehmen, die sonst Frauen vorbehalten sind:

„Da ziehen alte, gebrechliche Herren unter der strengen Aufsicht von Flintenweibern und jungen Burschen Lastwagen mit Unrat und Jauche, reinigen die Straßen und Aborte, waschen die Fußböden in Typhuslazaretten.“ (Baltische Tragödie, S. 539)

Solche Flintenweiber kennzeichnet ein besonderer Sadismus, sie morden recht gern, auch wenn sie sich dafür nicht besonders begabt zeigen:

„„Als schließlich den Milizsoldaten das Morden zum Ekel wird – vielleicht auch nur, weil ihnen diese Nachtarbeit auf die Dauer unbequem ist -, übernehmen die „Flintenweiber“ die Exekution, oft noch ganz junge Mädchen, denen das Erschießen ein sadistisches Vergnügen bereitet. Sie schießen schlecht, aber es kommt ja auch nicht so darauf an – zuerst auf die Beine, dann etwas höher, langsam immer höher – man hat ja Patronen, man hat ja Zeit. Ein Flintenweib auf weißem Roß im schwarzen Sammetmantel leitet die Hinrichtungen.““ (Baltische Tragödie, S. 540)

Diese Flintenweiber werden durch die christliche Todesverachtung der deutschbaltischen Baronsdamen, die im Rigaer Zentralgefängnis auf ihre Hinrichtung warten, eines Besseren belehrt. Die Szene wird durch geheimnisvollen Glanz mystisch überhöht, dieser erinnert an die Lichteffekte nationalsozialistischen Budenzaubers, an Märtyrerverklärung vor der Feldherrnhalle, das `Zusterbenverstehen` eint heroisch:

„„Die Aufseher und Flintenweiber, die sich an den Qualen der zu Abortarbeiten befohlenen „Baronsdamen“ ergötzen wollen, werden bitter enttäuscht. Jeden Morgen und jeden Abend werden Andachten abgehalten, geistliche Lieder gesungen, Abschnitte aus der Bibel vorgelesen: etwas vom Geist der Märthyrer zur Zeit der ersten Christenverfolgungen ist in diesen Gefangenen wieder lebendig geworden. Keine Klage, kein Gejammer kommt über die Lippen. Eine große innere Freudigkeit, ja Heiterkeit leuchtet aus den blassen, eingefallenen Gesichtern, strahlt aus den Augen, füllt die engen, dunklen Kerkerräume mit einem geheimnisvollen Glanz.““ (Baltische Tragödie, S. 542).

Aurel schätzte in seiner Heimat die weiten, menschenleeren Landschaften, die modernen Ballungszentren des Deutschen Reiches stoßen ihn ab. Das macht anfällig für Hans Grimms „Volk-ohne-Raum“-Ideologie. Als sich Aurel nach verlorener Schlacht entschließt, nach Deutschland auszuwandern, zweifelt er:

„War es nicht ein Wahnsinn, ausgerechnet jetzt nach dem verkleinerten und zerstückelten Deutschland auszuwandern, das ja schon für seine eigenen verarmten Bewohner nicht genügend Raum hatte?“ (Baltische Tragödie, S. 577)

und während der Schiffsreise ins Land, das den Krieg verloren hat und dessen Bewohner den Versailler Vertrag beklagen:

„Ja, dort liegt Deutschland – ein besiegtes, geknechtetes, aus tausend Wunden blutendes, ohnmächtiges Land. Man hat ihm alles genommen: die Waffen, die Ehre, den Glauben an sich selbst. Ein wehrloses, ausgeplündertes, ein entehrtes, gedemütigtes Volk. Und jetzt willst du nach Deutschland? Jetzt Deutscher? Jetzt, im Unglück erst recht! Kleine baltische Nebenfigur [= Hauptfigur Aurel, U.B.], überleg es dir doch: Schon vor dem Kriege war dieses Land übervölkert, einer trat dem anderen auf die Füße, nur mit Fäusten konnten sich die Tüchtigsten behaupten, nirgends Raum zum Leben, nirgends Luft zum Atmen; wie wird es aber jetzt werden, nachdem man diesem Volk noch mehr Land fortgenommen, ihm Tribute auferlegt hat, die nicht nur seine Kinder, sondern auch noch seine Kindeskinder werden zahlen müssen?“ (S. 584f.)

Mit solchen herausgegriffenen Zitaten ließe sich Vegesack problemlos in die Schublade der NS-Literaten oder zumindest der nationalkonservativen Mitläufer stecken. Doch die Angelegenheit ist gewiss komplizierter. Auch zuletzt ist der Ton nicht einheitlich völkisch oder nationalkonservativ. Die lettische Dienerschaft zeigt sich auch dann noch anhänglich, als Aurels Mutter ihren Besitz verloren hat. In der Not, nach verheerender Völkerschlacht, entwickelt sich Menschlichkeit und christliche Nächstenliebe über Grenzen des Standes, der Ethnien und der Ideologie hinweg. Die Mutter berichtet Aurel, dass sich die alten lettischen Diener solidarisch erweisen:

„„Erst jetzt habe ich erfahren, was Treue und Liebe ist“, meinte sie ein anderes Mal, „jetzt, wo ich nichts mehr geben kann, besuchen mich immer wieder alte Dienstleute und frühere Pächtersfrauchen, an die ich mich kaum noch erinnere, bringen uns Eier und Knappkäse; ja sogar die angebrannte Christin aus der alten Mühle hat uns herrlichen Wabenhonig gebracht. Soviel Anhänglichkeit wie jetzt habe ich noch nie erlebt. Und wenn die [neue lettische, U.B] Regierung uns auch alles genommen hat – die Letten sind deshalb nicht ein Volk von Räubern und Dieben. Kein Volk ist schlechter oder besser als das andere!““ (Baltische Tragödie, S. 582)

Die Ansichten der verschiedenen dargestellten Figuren zeigen eine gewisse Bandbreite zwischen christlichem Humanismus und politischer Reaktion. Aurels Meinungen bilden ein mittleres Konzentrat davon, dazu gehören auch Haltungen und Einsichten, die ein Nazi missbilligt hätte. Aurels Freund ist ein psychisch Kranker, der das Irrenhaus von innen kennt. Der Paranoiker fürchtet sich vor einem allmächtigen Feind, ein Big Brother, der ihn überall belauere. Doch an den Krieg, den die Zeitungen verkünden, glaubt er nicht, so verrückt kann er sich die Menschheit gar nicht vorstellen:

„„Krieg?“ Mischka sah Aurel ungläubig mit einem überlegenen Lächeln an: „Also auch du glaubst an dieses alberne Märchen, das der Feind mir einreden will? Da hat er mir sogar eine Zeitung gebracht: 2600 Tote und 7300 Gefangene – aber ich bin nicht so dumm, ich fall` auf diesen Schwindel nicht herein! Und wenn es zehnmal gedruckt steht – die Zeitungen lügen!“ Mischka knitterte das Blatt zusammen und warf es verächtlich auf den Fußboden: „So verrückt sind die Menschen nicht, das laß ich mir nicht aufschwatzen! Es gibt einen Krieg, aber der wird ganz woanders ausgekämpft!“ Mischka klopfte sich auf die Brust: „Hier drinnen, da steht der Feind, und wenn wir ihn nicht in unserm Innern besiegen, ist alles Kämpfen draußen umsonst. Aber so lange der Feind mich hier gefangen hält, ist auch mein Inneres unfrei. Marc Aurel, wenn du mein Freund bist, dann befreie mich aus dieser Hölle!““ (Baltische Tragödie, S. 407)

Nicht nur Mischka, auch Aurel hat den Kampf gegen den inneren Feind verloren. Dieser raubte ihm Sensibilität und Empathie, das Verständnis für andere Gruppen, seien diese ethnisch oder sozial definiert. Diese Abhärtung verleitete ihn, für die verlorene deutschbaltische Sache in den Krieg zu ziehen. Die Baltische Tragödie ist ein Roman, der das Scheitern einer Erziehung darstellt. Aurel bildet sich für eine Gesellschaft, die längst verloren ist. Sein realer Gegenpart Siegfried zog früher Konsequenzen und begann bereits vor Kriegsausbruch im Deutschen Reich ein neues Leben und wurde Journalist und Literat in der Weimarer Republik. Boris Röhrl lobt Vegesacks Roman Das Fressende Haus, der 1932 erschien, als moderne Literatur. Der Wahlbayer hatte sich mit dem Kauf der Ruine Weißenstein eine Zuflucht gesucht, wo er mit seiner Familie Jahrzehnte vor der Alternativbewegung ein Aussteigerleben führte. Bereits in den zwanziger Jahren plante der Emigrant, mit seinen neuen Nachbarn ein Windrad zu errichten, um Strom zu erzeugen. Baumer nennt ihn einen Don Quijote, der nicht gegen, sondern für Windmühlen kämpfte. Doch Röhl und Baumer sind entgegengesetzter Auffassung, was Vegesacks Handeln in der NS-Zeit betrifft. Baumer, der stets aus Vegesacks Schriften zitiert, stellt ihn als Widerstandskämpfer dar: Die Schwierigkeiten mit der Reichsschrifttumskammer, die Weigerung, Goebbels zum Geburtstag zu gratulieren oder Vorträge mit „Heil Hitler“ zu beginnen, sein Protest gegen Judendiskriminierung, die Hausdurchsuchung der Gestapo von 1938 und schließlich eine NS-Schrift, die ihm seine politische Haltung als ehemaliger Mitarbeiter der Weltbühne vorwirft, das alles suggeriert, als ob der Deutschbalte nur knapp dem KZ entkommen wäre. Da erscheinen seine Reisen nach Südamerika, die er ab 1936 unternahm, wie eine Flucht vor dem NS-Regime. Doch Röhl zufolge blieb Vegesack in der Fremde ein systemkonformer Botschafter und nennt folgende Notiz im deutschsprachigen Migrantenblatt „Deutsche La Plata Zeitung“ als Beleg:

„(Siegried von Vegesack) wies zunächst auf die enge Schicksals-Verbundenheit der Balten mit den Deutschösterreichern, in deren Heimat er sich stets `wie daheim`gefühlt habe, hin und betonte, daß heute, dank dem Führer und dem von ihm erweckten Gedanken der deutschen Volksgemeinschaft auch die Binnendeutschen Verständnis und Teilnahme für den Kampf und das harte Los der Grenz- und Auslandsdeutschen gewonnen hätten. Für die dann folgende Vorlesung aus der `Baltischen Tragödie`, deren tiefe Wirkung schon hervorgehoben wurde, dankte ihm die Zuhörerschaft mit langem, herzlichen Beifall.“ (zit. nach. Röhl, S. 91)

Demnach hatte sich der angebliche Individualist in die Volksgemeinschaft integriert und hoffte auf ihre Solidarität im Kampf um die deutschbaltische Heimat. Erst die Vereinbarung Hitlers mit Stalin, die Deutschbalten in den Reichsgau Wartheland umzusiedeln, habe die Hoffnung auf den Führer zerstört. Röhl kommt, zumindest, was Vegesacks Verhalten in der NS-Zeit betrifft, zu einem herben Fazit, sowohl über die Baltische Tragödie:

„Die Beschwörung der unbedingten Treue zum Mutterland, der Nationalismus, stellt die zentrale Aussage des Romans dar. Ziel ist die Restauration der Verhältnisse von vor 1917. Die `Baltische Tragödie` nimmt zwar Motive der nationalsozialistischen Literatur auf, aber die eigentliche Grundhaltung muß im Deutsch-Nationalismus gesucht werden.“ (Röhl, S. 94)

…als auch über den Autor:

„Vegesack war kein Opportunist, kein Mitläufer, sondern ein überzeugter Nationalist, der sein Werk ganz bewußt in den Dienst der Diktatur stellte, ein Intellektueller, der wie viele seiner Generation sich darüber im klaren war, was er tat. Selbst als er 1937 eine `Vorwarnung` erhielt, da er sich bezüglich des Antisemitismus nicht völlig systemkonform zeigte, scheint er zu keiner oppositionellen Haltung gefunden zu haben. Die Einschränkung seiner persönlichen Freiheit mag ihn gestört haben, jedoch überwog der Glaube, daß die außenpolitischen Machtansprüche Hitlers eine Restauration der Verhältnisse im Baltikum bewirken könnte.“ (Röhl, S. 95)

Röhl reduziert hier ein komplexes Thema: In wie weit vermochte ein bekennender Deutschbalte überhaupt ein hundertprozentiger `Nationalist` zu sein? Der Roman zeigt Szenen der Entfremdung aufgrund nationalistischer Stimmungen, die eine ethnisch homogene Bevölkerung einfordern. Aurel stellt in Berlin frustriert fest, dass die deutsche Realität keine Bayreuther Traumwelt ist. Die Binnendeutschen begreifen ihn nicht als ihren Landsmann. Zwischen reichsdeutschen Soldaten und Männern der deutschbaltischen Landeswehr herrscht kein harmonisches Verhältnis. Der Nationalismus der Letten bedrohte wiederum die adelige Vorherrschaft. Allerdings konnten die Nazis, ideologisch stark verkürzt und verzerrt, die Geschichte der Deutschbalten als Anregung verstehen, wie der Osten mit arischen Führern und slawischen Untermenschen in Zukunft zu bewirtschaften wäre.

Was ein Autor „ganz bewußt“ formuliert, das wäre für einen Psychologen ein weites Feld der Betrachtung. Vorausgesetzt, dass sich Vegesack tatsächlich mit der Hauptfigur seiner Prosa-Tragödie identifiziert hat, kann man die Wandlung einer humanen Gesinnung zu einem autoritären Antidemokraten beobachten. Ob ihn die Aussicht auf Eroberung der deutschbaltischen Heimat durch die Deutsche Wehrmacht und die Hoffnung auf eine Restauration der alten Blumbergshofidylle zum Bündnis mit dem Nationalsozialismus verleitete, darüber möchte ich an dieser Stelle nicht spekulieren. Der Vegesack, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg seine Heimat verließ, um in Deutschland demokratische Artikel zu schreiben, hatte offensichtlich anderes im Sinn. Die Baltische Tragödie bietet trotz aller Kritik einen vergnüglichen und lehrreichen Lesestoff. Unabhängig von der Frage, ob dies dem Autor bewusst war, demonstriert sie das Scheitern einer rückwärts gewandten Mentalität, die an vergangener Herrlichkeit und unzeitgemäßen Privilegien festhält und die nicht fähig ist, sich den Erfordernissen der Gegenwart zu stellen, zu keinem neuen Miteinander mit anderen ethnischen und sozialen Gruppen bereit ist. Diese Lesart wäre eine demokratische und m.E. die gemäße.

Udo Bongartz

Die Zitate stammen aus folgenden Quellen:

Franz Baumer, Siegfried von Vegesack, Heimat im Grenzenlosen, Eine Lebensbeschreibung, Heilbronn 1974

Boris Röhl, die revidierte Moderne, Siegfried von Vegesack – Das gescheiterte Experiment einer „neuen Heimatliteratur“ im Dritten Reich, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Die totalitäre Erfahrung, Deutsche Literatur und Drittes Reich, Berlin 2003, S. 75-99

Siegfried von Vegesack, Baltische Tragödie, Eine Roman-Trilogie, Berlin 1935.

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