Mi. Apr 24th, 2024

Das Thema Sprache ist in Lettland eine heikle Angelegenheit. 2003 protestierten die Schüler russischer Minderheitenschulen gegen die Einführung des Lettischen als Unterrichtssprache, Foto: PCTVL, CC BY-SA 2.5, Seite.

Seit dem Angriff russischer Truppen auf das Territorium der Ukraine befinden sich lettische Einwohner, die im Verdacht stehen, mit der russischen Regierung zu sympathisieren, im Visier der lettischen Behörden. Etwa 18.000 Einwohner Lettlands, die als ehemalige Staats- oder Nichtbürger der Baltenrepublik nun im Besitz eines russischen Passes sind, aber die behördliche Genehmigung haben, auf jeweils vier Jahre befristet in Lettland zu bleiben, müssen fortan für die Verlängerung eine neue Auflage erfüllen: Sie sollen lettische Sprachkenntnisse auf A2-Niveau nachweisen; das entspricht dem Übergang von Anfänger- zu Fortgeschrittenenkenntnissen.

Kurz vor den Parlamentswahlen im letzten Herbst beschloss die 13. Saeima noch das Gesetz, das jene in Lettland wohnende russische Staatsbürger fortan dazu verpflichtet, Sprachkenntnisse nachzuweisen. Andernfalls verlieren sie ihre Aufenthaltsberechtigung und werden ausgewiesen. Bis zum 24. März sollten Betroffene den Antrag auf eine Sprachprüfung stellen. Seit Mitte April werden ihre Lettischkenntnisse getestet. Bis zum 7. Mai 2023 haben laut LSM 4995 lettische Einwohner mit russischem Pass an der Sprachprüfung teilgenommen, etwa die Hälfte fiel durch.

Die neue Mitte-Rechts-Koalition hat das Gesetz im April entschärft. Die Sprachprüfung kann nun wiederholt werden und Behörden erhalten mehr Zeit, Aufenthaltsgenehmigungen zu bearbeiten. Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht imstande sind, Lettischkenntnisse zu erwerben, sind vom Test befreit. Betroffene klagen dennoch vor dem Verfassungsgericht. Sie bemängeln die Ungleichbehandlung ausländischer Staatsbürger.

LSM-Journalistin Linda Spundina interviewte eine Betroffene, die 68jährige Anna P., die im Alter von 17 Jahren von Kaliningrad nach Riga kam (lsm.lv). Dort lebte bereits ihr Bruder. Sie absolvierte – wahrscheinlich auf einer russischsprachigen Minderheitenschule – die Mittelschule, heiratete, bekam einen Sohn. Nachdem ihr erster Mann gestorben war, heiratete sie erneut. Ihr zweiter Mann ist pflegebedürftig, zudem kümmert sich Anna K. um ein Waisenkind, das sie aufnahm.

Lettisch hat sie nur sporadisch gelernt, mit Spundina spricht sie Russisch. 1990 erwarb sie ein Lettisch-Zertifikat, das ihr Grundkenntnisse bescheinigte. Damals arbeitete sie in einem Krankenhaus, um Patienten vom Lift zur Behandlung zu begleiten. Dort sprach sie nur Lettisch, zwar mit Fehlern, aber sie konnte sich verständigen. In der Wendezeit habe sie die lettische Unabhängigkeit befürwortet: „Natürlich für Lettland. Weshalb? Nicht, dass ich gegen Russland wäre. Einfach, weil es ein kleines Land ist. Vielleicht werden wir gut zusammenleben.“ Der lettische Gesetzgeber erteilte 1991 Russen, die nach der sowjetischen Okkupation von 1940 immigriert waren, lediglich den Status von Nichtbürgern, zwar mit lebenslangem Aufenthaltsrecht, aber ohne Wahlrecht.

Nichtbürgerin Anna K. entschloss sich 2010, den russischen Pass zu erwerben, um Rente aus Russland zu beziehen. Inzwischen erhält sie eine lettische Rente statt der russischen. Sie nahm am Sprachtest teil und fiel durch, weil sie im schriftlichen Teil nicht die erforderliche Punktzahl erreichte. Die Hürde der Sprachprüfung erscheint ihr als existenzielle Bedrohung: „Was soll man tun, ehrlich gesagt? Wohin soll ich fahren? Zum Friedhof, dort ist doch nichts. Wohin soll ich im Kaliningrader Gebiet fahren? Kann einer von den Rentnern eine Bedrohung sein? Ich verstehe, dass Krieg ist und alles übrige, aber welche Bedrohung kann ich bedeuten? Mit dem kranken Mann komme ich nur bis zu den Geschäften, ins Krankenhaus, zu den Ärzten, das ist alles.“

Anna K. ist eine von Dutzenden, die sich an einer Verfassungsklage beteiligen. Die Rechtsanwältin Elizabete Krivcova aus Daugavpils organisiert das Verfahren. Sie ist Mitglied der Partei Saskana, die vor allem von Russischsprachigen gewählt wird (die aber bei den letzten Saeima-Wahlen scheiterte). Krivcova ist im Visier des lettischen Geheimdiensts VDD. Vor elf Jahren beteiligte sie sich an der Organisation zum umstrittenen Referendum, Russisch als zweite Staatssprache einzuführen, das abgelehnt wurde. Der VDD wirft ihr vor, Kreml-Ideologie zu verbreiten, um bei Russischsprachigen das Zugehörigkeitsgefühl mit dem großen Nachbarland zu stärken. Zum 9. Mai habe sie Umzüge zum Ruhme der sowjetischen Armee veranstaltet.

Nach Krivcovas Auffassung widerspricht das Aufenthaltsgesetz sowohl der Verfassung als auch internationalem Recht. „Zunächst gibt es das Recht auf ein Privat- und Familienleben, denn die Menschen haben ihr Leben geplant, ihren Lebensabend und sie hatten einen bestimmten Rechtsstatus. Diese Bestimmungen bleiben rückwirkend in Kraft. Und auch die Rechtspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die besagt, dass man Menschen, die sich legal im Land aufhalten, nicht so leicht das Recht auf Aufenthalt entziehen kann.“

Zudem sieht die Anwältin das Prinzip der Rechtsgleichheit verletzt, weil nur russische Staatsbürger den Sprachtest absolvieren müssen. Von anderen Einwohnern mit ausländischem Pass wird das nicht verlangt. Nach Auskunft des staatlichen Bürgerbeauftragten könnte das dazu führen, dass das Verfassungsgericht nach einem Urteil, das für nächstes Jahr erwartet wird, auch von den übrigen Einwohnern mit ausländischem Pass, auch EU-Bürgern, bei langfristigem Aufenthalt einen Sprachtest verlangen könnte, das beträfe mehr als 50.000 Ausländer. Das Büro des Bürgerbeauftragten kritisiert die neuen Bestimmungen nicht grundsätzlich. Es wünscht vom Ministerpräsidenten Krisjanis Karins allerdings, das Lebensalter, ab dem Betroffene vom Test freigestellt werden, von 75 auf 65 Jahre zu verringern.

Noch scheint unklar zu sein, welche Folgen das Gesetz haben wird. Spundina bemängelt russische Propaganda, die behaupte, dass Lettland Massendeportationen plane. Für die Betroffenen bleibt die Lage allerdings ungewiss. Für Janis Priekulis, ein juristischer Berater der Saeima, gelten Menschenrechte nicht „absolut“: „Der Staat hat weitreichenden Ermessensspielraum, Menschenrechte einzuschränken, wenn dies tatsächlich zum Schutz der staatlichen Sicherheit dient. Angesichts dessen, was gerade ziemlich in der Nähe unserer Nachbarn passiert, erweitert sich dieser Spielraum.“ Auch die Entscheidung des Gesetzgebers, die Sprachprüfung auf russische Staatsbürger zu beschränken, hält Priekulis für „objektiv“ gerechtfertigt.

Die lettische Ausländerbehörde geht nicht davon aus, dass viele wegen gescheiterter Sprachprüfung abgeschoben werden, sie geht von Einzelfällen aus.

Siehe auch: „Martialisches Gezwitscher 1: Der Sprachtest“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Translate »