Fr. Mai 10th, 2024

Fotos: Udo Bongartz.

Für Fußgänger, Fahrgäste von Bussen und Bahnen, Autofahrer, vereinzelte Radfahrer ist die Rigaer Innenstadt derzeit kein Vergnügen. Rund um Bahnhof und Bahntrassen verengen und versperren Baustellen die Straßen und Plätze. Kräne ragen gen Himmel, Bagger durchfurchen zwischen Mulden und Sandhaufen das Gelände. Die Rigaer Bahnhofsgegend gleicht derzeit ein wenig Stuttgart 21. Doch das Projekt Rail Baltica, das die Bauarbeiter hier vorantreiben, ist weniger umstritten, wird mittlerweile vorangetrieben, weil die Militärs seine Bedeutung für Waffentransporte erkannt haben. Die Schnellbahnstrecke Rail Baltica wird die baltischen Länder mit dem Schienennetz europäischer Spurbreite verbinden. Zukünftig, voraussichtlich ab 2026, kann ein Zugpassagier von Tallinn bis Warschau oder Berlin durchfahren, ohne dass unter seinem Waggon gehämmert wird, um die Räder der Schienenbreite anzupassen.

Kurt Tucholsky wunderte sich über die Städter, die über ihren Verkehr stolz sind.1 Am vorgezeigten Autofuhrpark einer Nation lässt sich der erwirtschaftete Wohlstand ablesen. Mit SUV und deutschen Modellen der gehobenen Mittelklasse können die Rigenser mit westeuropäischem Niveau längst konkurrieren: Tatsächlich ist der Durchschnittsrigenser inzwischen so wohlhabend wie der Durchschnittsspanier. Lettland ist doch arm? Die Armut sieht man nicht, denn die fährt nicht im eigenen Auto.

Die Stadt Riga nutzt Absperrungen, um auch das Schienennetz für die Straßenbahn zu sanieren.

Wie Bewohner westeuropäischer Metropolen leiden die Rigenser darunter, dass ihre Stadt nicht für motorisierte Massenmobilität gegründet wurde. Das metallicfarbene Blech staut sich allenthalben und es säumt die Straßenränder. Manche Asphaltschneisen, die auf Deutsch so vielsagend „Ausfallstraßen“ heißen, sind für den Fußgänger genauso unüberwindlich wie die Daugava. Und die Unterführungen und Fußgängerampeln sind genauso weit entfernt wie die nächste Brücke. Wie in Paris, Rom, Köln oder Düsseldorf leisteten sich Rigenser Stadtplaner die Bausünde, das einst lauschige Flussufer für Ausfallstraßen zu planieren. Man muss schon taub sein, um den Ausblick von der neu gestalteten Promenade auf die Daugava genießen zu können. Noch fehlt das Geld, um wie die reichen Düsseldorfer die Ausfallstraße in einen Ufertunnel einzubuddeln.

Bahnabfahrten der Rail Baltica. Neben der zweigleisigen Strecke müssen zahlreiche Anschlüsse gebaut werden. Auch der Rigaer Flughafen soll angebunden werden.

In diesem gewohnten Elend des Individualverkehrs bringen Baustellen eine Art von Abwechslung, ein wenig Anarchie ins tagtägliche Einerlei. Der Verkehrsteilnehmer muss sich durchs Labyrinth der rotweißen Baken quengeln, so nennt der Duden rechteckige, tragbare Absperrbretter „an Stellen, die Fahrbahnwechsel und -verengung notwendig machen“. Tucholsky mokierte sich über die Deutschen, denen nach dem Versailler Vertrag die Verkehrsordnung zum Ersatz für die verbotene Wehrpflicht wurde; damals hätten organisationswütige Verwaltungsbeamte jeden Sinn für Maß und Mitte verloren und beim allgemeinen „Gefuchtel, Geblink, Geklingel und Gewink“ sei ihm angst und bange geworden. Bei den Letten geht es glücklicherweise lockerer zu. Wer im Umleitungschaos den Weg nicht mehr findet und nur über die Baustelle weiterkommt, wird nicht zurechtgepfiffen. Improvisationskunst ist auch eine Kunst, das macht lettische Baustellen sympathisch.

Hinter dem Hauptbahnhof tummelt sich schweres Baugerät.

Die Werktätigkeit gilt einem großen Ziel. Für die Rail-Baltica-Trasse muss an den bestehenden Gleisen entlang eine neue Überführung errichtet und der Hauptbahnhof ausgebaut werden. Die zweigleisige Strecke von Tallinn über Riga und Kaunas bis Warschau wird 840 Kilometer lang werden. Die Züge sollen eine Höchstgeschwindigkeit von 240 km/h erreichen. Die gesamten Baukosten schätzt das lettische Verkehrsministerium nach jetzigem Zwischenstand auf fast 6 Milliarden Euro, davon finanziert die EU knapp zwei Drittel.

Für den Fußgänger gestaltet sich die Innenstadt als Hindernislauf.

In früheren Jahren beschwerten sich Rail-Baltic-Manager über mangelnde Unterstützung der baltischen Regierungen. Doch jetzt hat der Bau Priorität, auch wenn die NATO bestreitet, dass militärische Zwecke vorrangig seien, wird doch klargestellt, dass auf der Trasse auch Panzer transportiert werden können.

Im Baustellengewimmel werden jetzt auch Rohre verlegt und Straßen neu asphaltiert.

Im Juni 2022 trafen sich Vertreter der Drei-Meeres-Initiative, ein Zusammenschluss zwölf östlicher EU-Länder, unter ihnen die baltischen Staaten, Polen und Österreich, zu einer Konferenz in Riga. Auch das Thema “Sicherheit” wurde erörtert, das im politischen Diskurs in letzter Zeit stets Militärisches bezeichnet. Vertreter wiesen darauf hin, dass die Rail Baltica über die Suwalki-Linie führt. Hier grenzt Polen an Litauen, eingeschnürt vom Kaliningrader Gebiet und Belarus. NATO-Generäle halten diese Enge in einem Konflikt mit Russland für schwer zu verteidigen. Müsste man an dieser Stelle Waffen von einer Spurbreite auf die andere umladen, wäre das ein Ziel für russische Raketen. Die Rail Baltica ermöglicht schnellere Transporte von Kettenfahrzeugen, die dann nicht umständlich zwischen verschiedenen Spurbreiten umgeladen werden müssten. Ein anwesender britischer Eisenbahnexperte ließ sich mit den Worten zitieren: “Die Sicherheit ist stets in Betracht zu ziehen, auf verschiedene Weise in unterschiedlichen Projekten. Aber ich denke, dass im Baltikum das besonderen Anklang findet, denn hier ist Russland nebenan, dass sich schrecklich und aggressiv verhält. Das Projekt hilft bei der gesamten Planung von Ausnahmezuständen. Bei der Entwicklung solcher Projekte wird auf der ganzen Welt über solche Aspekte nachgedacht, doch ich habe nirgends eine Situation erlebt, wo dies so akut und wichtig wäre wie hier.” (lsm.lv) Die Informationsstrategen der NATO-Stratcom stritten sich mit Autoren des russischen Webportals Sputnik, ob Militärisches der Hauptzweck der Schnellbahnstrecke sei. Ob hauptsächlich Militärtransporte oder Passagierzüge über die Strecke rauschen werden, wird die ungewisse Zukunft entscheiden.

1 Kurt Tucholsky, John Heartfield: Deutschland, Deutschland ueber alles, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 199.

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