Zwei Hunde warten auf den Frühling, Foto: Udo Bongartz
Der zweite Sonntag im März 2024 war endlich ein richtiger Sonnentag. Der ständig graue Himmel der letzten Wochen passte zur tristen politischen Lage in Europa und in vielen Teilen der Welt. Doch am 10. März zeigte sich kein Wölkchen am Himmel und das Volk von Kengarags, Lettisch- und Russischsprachige, Familien und Singles, Jung und Alt nutzten den heiteren Himmel für einen Ausflug zur Promenade an der Daugava.
Die Promenade von Kengarags im Sonnenschein, Foto: Udo Bongartz
Bei Temperaturen um fünf Grad bilden Mäntel, Kapuzen und Mützen weiterhin Schutzhülle vor noch frischer Witterung. Die gemächliche Gangart der meisten strahlt Ruhe und Frieden aus. Sie scheint wie eine Demonstration gegen Hektik, Stress, der ständigen Beschleunigung des Chaos, der Zeit, die angeblich Geld ist, der Überflutung mit “Breaking News” bzw. der betagten “Eilmeldung”, die im Zeitalter des Denglischs ihren Sensationsreiz nicht verloren hat. Hier an der Daugava kann man sich vor Medien und Politik eine Zeitlang verbergen und nachsinnen, wie friedlich alles sein könnte; gäbe es keine politische Methoden, Menschengruppen gegeneinander aufzuwiegeln. Völlige Harmonie wird es nicht geben, solange Lebewesen um ihre Existenz ringen müssen, die Rohstoffe begrenzt sind, auch Fortpflanzung ein Thema der Konkurrenz bleibt. Zivilisation müsste bedeuten, diese naturbedingten Konfliktursachen wenn schon nicht vollständig zu überwinden, so doch auf ein erträgliches Maß zu lindern. Doch davon scheint die Menschheit noch weit entfernt, sie fällt zu oft in Revierkämpfe zurück, manchmal von Wissenschaftlern gefördert, wenn sie beispielsweise sozialdarwinistische Theorien verbreiten. Jene, die über das “Survival of the Fittest” schwadronierten, hielten sich selbst für die Fittesten und stellten Ansprüche, hielten sich für etwas Besseres.
Blick von der Promenade auf das Stadtzentrum, Foto: Udo Bongartz
Fütterung der Schwäne und Enten ist eine beliebte Freizeitbeschäftigung am Daugava-Ufer, Foto: Udo Bongartz
Zuweilen scheinen mir Tiere überlegen. Sie kennen zwar den Krach um Futter und die Rangeleien in der Brunftzeit, auch die Gefahr, die von stärkeren Fleischfressern ausgeht; doch mir scheint, sie begrenzen die Prügeleien auf das Notwendige. Die tierische Gewalt wird nicht durch Eitelkeit verschärft, nicht durch das Bestreben, sich hervorzutun, etwas zu gelten und in die Geschichte einzugehen. Katzen träumen lieber den ganzen Tag, lassen sich kraulen und beißen, wenn sie genug haben. Das macht Katzen ehrlicher und sie sind deshalb auf Instagram usw. sehr beliebt. Sie verhalten sich wie kleine Geschwister, die noch nicht gelernt haben, wahre Absichten hinter einem Poker-Face zu verbergen, um sich taktische Vorteile zu verschaffen im täglichen Kampf um Angebot und Nachfrage.
Eine Katze zwischen gefüllten Laubsäcken am Rand der Promenade, Foto: Udo Bongartz
Der Stadtrand von Kengarags, Foto: Udo Bongartz
Das verbliebene Laub ist zusammengefegt und in Säcke gefüllt. Die Kleingärtner am Stadtrand, der zwischen Wiesen und Bäumen zerfranst, können den Spaten hervorholen. Nach den düsteren Monaten ist der Tag wieder so lang wie die Nacht. Bis zur Eröffnung der Badesaison an ausgewiesenen, von der Stadtpolizei überwachten Stellen am Fluss, wird es aber noch Monate dauern. Das, was anderenorts das historische Zentrum bildet, findet sich in Kengarags am Rande des Stadtviertels, am Übergang zur Waldfläche. Der historische Kern befindet sich auf einer Wiese Richtung Salaspils. Er besteht aus einem hergerichteten Areal mit Wassermühle, Teich und Ruinen des Jungfernhofs.
Das historische Gelände des Kleinen Jungfernhofs, Foto: Udo Bongartz
Kengarags geht auf die Gründung eines Zisterzienserklosters für Frauen zurück. Es wurde zunächst Blumental, später kleiner Jungfernhof genannt. Im 18. Jahrhundert erwarb Riga die Stätte. 1794 lebten 3357 Menschen, Leibeigene, Arbeiter, Handwerker und Diener hier. Ab 1877 pachtete Johann Ratfeld das Gebiet. Laut einer Beschreibung aus jener Zeit umfasste es 16 Gebäude, gemauert und mit Glasfenstern ausgestattet, mit Ställen, Werkstätten und einem Krug, also einer Gaststätte, die Reisende auf dem Weg nach Riga bewirtete. Im 20. Jahrhundert widerspiegelte der Kleine Jungfernhof die wechselvolle Geschichte Lettlands, zu deren traurigem Tiefpunkt die Einrichtung eines Konzentrationslagers unter deutscher Besatzung gehört. Darüber mehr zu schreiben, passt nicht zum sonnenreichen Sonntag, an dem erste kleine Knospen einer besseren Zeit zu entdecken sind.
Erste Knospen Mitte März in Kengarags, Foto: Udo Bongartz