Mo. Apr 29th, 2024

Szene aus einem Twitter-Video, das darstellt, wie eine behinderte russischsprachige Seniorin zum Lettischtest getragen wird.

Viel ist es nicht, was westliche Medien aus Wladimir Putins Reden zitieren und wenn nur das, was zu seinem dämonischen Image passt. Der russische Staatspräsident hatte sich am 4. Dezember 2023 gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur TASS zur lettischen Innenpolitik geäußert. Folgende Aussage wurde von deutschsprachigen Journalisten wiedergegeben: “Ich glaube nicht, dass das Glück zu denen ins Haus kommt, die eine solche Politik verfolgen.” Die Behandlung der russischsprachigen Minderheit in der mittleren Baltenrepublik habe er als “schweinisch” bezeichnet und man brauche sich nicht zu wundern, wenn sich dies gegen einen selbst richte. (heute.at)

Das benutzte Schimpfwort verschärfte die Kritik polemisch, doch laut FR begründete der vom Westen angefeindete Politiker seine Kritik und differenzierte: “Putin äußerte Verständnis dafür, dass Länder von ihren Bewohnern Grundkenntnisse der Kultur und Sprache fordern. Allerdings bezeichnete er den Status der Nichtbürger als eine `rechtliche Missgeburt` und drohte Staaten, die Russen diskriminieren, mit einer entsprechenden Reaktion. Moskau könnte auch Auslandsrussen unterstützen, in ihre historische Heimat zurückzukehren. Putin betonte zudem, dass, wenn diese Personen nicht gehen möchten, aber ausgewiesen werden, entsprechende Bedingungen für sie geschaffen werden müssten.” (fr.de)

Der FR-Journalist folgerte, dass diese Aussagen “durchaus bedrohlich” erschienen. Auch in der Ukraine habe Putin sich “als scheinbar fürsorglicher Anwalt russischsprachiger Menschen inszeniert”, dann sei die “Annexion der Krim, die Besetzung von Gebieten in der Ostukraine und schließlich im Februar 2022 der Überfall auf die gesamte Ukraine” erfolgt. Hier wird dem Narrativ Vorschub geleistet, dass die russische Regierung bei nächster Gelegenheit ins Baltikum einmarschieren lässt und dafür nach einem Vorwand sucht.

Die FR zeigt sich in Sachen lettischer Innenpolitik nicht sattelfest: Die getroffene Behauptung, dass der gesetzlich geforderte Lettischtest sich auf die Nichtbürger beziehe, ist falsch. Zum Test aufgefordert wurden die etwa 20.000 Einwohner Lettlands mit russischem Pass, die regelmäßig ihr Aufenthaltsrecht verlängern müssen und die nun Lettischkenntnisse nachweisen sollen. Fallen sie bei der Prüfung durch, droht die Ausweisung, auch über 70jährigen. Dies zeigt einerseits, dass Einwohner, die seit Jahrzehnten in Lettland beheimatet sind, sich nicht um die lettische Sprache kümmerten, was auch Putin andeutungsweise kritisiert, andererseits erweist sich dieses Sprachgesetz, das auf nationalkonservativem Druck hin entstand, als ein staatliches Zwangsmittel, das aus angeblichen Sicherheitsbedenken Härtefälle produziert: Im Internet kursieren Youtube-Videos mit gehbehinderten Senioren, die in Rollstühlen oder auf Tragen zur Sprachprüfung geschleppt werden. (LW: hier).

Der langjährige Außenminister und derzeitige lettische Staatspräsident Edgars Rinkevics reagierte am 6. Dezember 2023 im Interview mit NRA auf die “Drohungen des Diktators Putin”: “Das ist Einschüchterungspolitik. In letzter Zeit wird das russische Propagandanarrativ verbreitet, dass alle seine Staatsangehörigen oder die der `russischen Welt` Zugehörigen brutal misshandelt würden. In Wirklichkeit ist das der Versuch, alle Gräueltaten, die Russland in der Ukraine anrichtet, zu vertuschen.” Rinkevics bezweifelt die journalistisch verbreitete Einschätzung, dass es sich um eine Drohung handele: “Das sind nicht mal direkte Drohungen, meistens ist es der Versuch, zu irgendwelchen staatsfeindlichen Aktionen jene anzustacheln und aufzufordern, welche sich weiterhin der `russischen Welt` angehörig fühlen und glauben, dass sie weiterhin im russischen Imperium leben. Wir wissen alle recht gut, dass die in Lettland lebenden Russen nicht diskriminiert werden, aber es bestehen völlig berechtigte Anforderungen – die Staatssprache beherrschen und das ist die Grundlage eines jeden Staates. Wir sehen, dass in Russland mit jenen, die eine andere Meinung haben oder mit jenen, die nicht fähig sind, auf Russisch zu kommunizieren, überhaupt keine demokratischen Diskussionen stattfinden.

Die lettische Minderheitenpolitik als “schweinisch” zu bezeichnen ist russische Propaganda. Doch Diskriminierungsvorwürfe einfach abzutun, wie es Rinkevics formuliert, ist ebenso fragwürdig. Die Maßnahme des lettischen Gesetzgebers, in den 90er Jahren ein Drittel aller Einwohner des Landes zu “Nichtbürgern” erklärt zu haben, weil sie oder ihre Vorfahren erst nach der sowjetischen Okkupation immigriert waren, stieß auf internationale Kritik. Nichtbürger, immer noch fast 200.000, haben kein Wahlrecht und dürfen bestimmte Berufe nicht ausüben. U.a. appellierte der Europarat in einer Resolution von 2006, die russische Minderheit besser zu integrieren (assembly.coe.int). Bis heute haben die politischen Vertreter der russischsprachigen Minderheit kaum Einfluss auf die Politik, weil ihre Parteien stets in der Opposition isoliert werden.

Jene, die eine andere Auffassung zu diesen Themen vertreten, wirft Rinkevics die Spaltung westlicher Gesellschaften vor: “In letzter Zeit habe ich beobachtet, dass es Versuche gibt, nicht nur unsere, sondern auch die Gesellschaft des Westens zu spalten, um in unterschiedlicher Weise die Unterstützung für die Ukraine zu verringern – unter praktischem, politischem und moralischem Aspekt.”

Rinkevics versäumte nicht, den Rest des Interviews zur Verbreitung des eigenen Narrativs zu benutzen; unter anderem beruft er sich auf ungenannte Experten, die davon ausgehen, dass Russland innerhalb der nächsten zehn Jahre ein NATO-Land anzugreifen beabsichtige. Der lettische Staatspräsident, der lange Zeit als Außenminister amtierte, geht von einem noch lange anhaltenden Krieg in der Ukraine aus. Seine Worte zur inneren Sicherheit könnten von Andersdenkenden ebenfalls als Drohung verstanden werden: “So erfolgreich wir selbst die eigene Verteidigung und Zusammenarbeit mit den Verbündeten stärken, innere Sicherheit, die Arbeit der Justiz im Zusammenhang mit Verbrechen, von der Spionage bis zur Volksverhetzung, so werden wir in jeglicher Weise demonstrieren, dass die Staatsmacht stark ist und dass wir selbst geeint sein werden, deshalb werden wir auch stark sein.”

In der “Schweine”-Affäre zeigt sich die Misere der internationalen Diplomatie und der Unwille führender Politiker, unterschiedliche Sichtweisen differenzierend und abwägend darzustellen. Statt dessen bezieht man sich wechselseitig auf polemische Spitzen, übertreibt die Vorwürfe des Kontrahenten ins Absurde, was die internationalen Konflikte weiter anheizt.

2 Gedanken zu „“Schweinisch behandelt” -Russisch-lettische Provokationen statt Verhandlungen“
  1. Ich habe 2013 in Riga einen Soldaten in SFOR-Uniform getroffen, der grad auf dem Weg nach Afghanistan war. Eine Sprachprüfung hätte er nie bestanden.
    Drückt man denn für die Pilsoniba ein Auge zu, wenn der russische Mit(nicht)bürger am Hindukusch westliche Werte verteidigt?

    1. Vielleicht ist er Sohn von Russischsprachigen, die bereits vor dem sowjetischen Einmarsch 1940 lettische Staatsbürger waren. Diese Einwohnergruppe hat einen vollwertigen lettischen Pass, unabhängig von Sprachkenntnissen.

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