Fr. Mai 10th, 2024

Ruinenlandschaft auf dem ehemaligen VEF-Betriebsgelände in Riga, Foto: Udo Bongartz

Riga gehörte zu den wenigen Metropolen des Zarenreichs, in denen bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts große Werkshallen mit Fabrikschloten den Stadthorizont zierten. Diese Produktionsstätten benötigten eine gute Verkehrsanbindung durch Eisenbahnen, Straßen und über den Seeweg, zudem Gas- und Wasserversorgung, bald auch Elektrizität. Technische Errungenschaften prägten mit neuer Architektur das Stadtbild: Bahnhöfe mit Warenlagern, Molen, Kraftwerke, Wasserwerke und -türme waren für die Industriearchitektur ebenso typisch wie die großen Fabrikgelände, deren Bauten in zaristischer Zeit und während der ersten Phase lettischer Unabhängigkeit reizvolle historistische Fassaden aufwiesen. Die Industriearchitektur der Sowjetzeit hob sich davon mit grauen, ästhetisch anspruchslosen Zweckbauten ab. Der abrupte Übergang zum Kapitalismus brachte für die meisten Fabriken in den 90er Jahren das Aus. Ihre Flächen verwandelten sich größtenteils in Industriebrachen, in denen Birken und Sträucher aus düsteren Ziegelmauern und Bauschutt emporragen. In den letzten Jahrzehnten wurde davon viel mit Baggern planiert, um Platz für Shopping Malls zu schaffen. Lettische Architekten, die jüngst in der als Kulturzentrum genutzten Werkshalle Provodnieks die „Tage des Industrieerbes“ veranstalteten, stellen diesen Umgang mit der historisch wertvollen Hinterlassenschaft zur Debatte. Sie weisen auf Möglichkeiten hin, solche Räume ressourcensparend umzugestalten. Im Lettischen Radio nannte Artis Zvirgzdins, Redakteur des Architekturportals „A4D“, Beispiele gelungener Neuverwendung (lsm.lv). Seiner Ansicht nach können sich die Rigaer Stadtplaner ein Beispiel an den Nachbarhauptstädten Tallinn und Vilnius nehmen, wo ganze innerstädtische Industrie- und Militärviertel saniert wurden.

Fassadendetail an einem erhaltenen VEF-Gebäude, Foto: Udo Bongartz

Zvirgzdins betonte, dass in der Zeit der Klimakrise und des weltweit unbegrenzten Ressourcenverbrauchs der Erhalt historischer Gebäude nicht nur eine ästhetische Angelegenheit ist. Abriss und die Errichtung neuer Betonbauten belasten die Klimabilanz; da ist es ökologisch sinnvoller, über den Erhalt und die Weiterverwendung alter Bausubstanz nachzudenken. Alte Werkshallen wurden in Deutschland in den siebziger Jahren für die Einrichtung erster großflächiger Discountermärkte genutzt. Heutzutage könnten zwischen den alten Ziegelmauern Märkte mit Restaurants, Kneipen, Einzelhandelsgeschäften, aber auch Bürobetriebe entstehen. Manche reizvolle historistische Anlage eignet sich zudem zur kulturellen Nutzung. Zvirgzdins nannte den Hansa-Perron im Norden der Rigaer Altstadt. Hier wurde mit privatem Kapital ein ehemaliges Warenlager der Eisenbahn restauriert. In der 1230m² großen Halle des Areals wurden 1100 Sitzplätze montiert. Das Lager hat sich in ein Kulturzentrum mit Theaterbühne, Konzert- und Ausstellungshalle verwandelt.

Wenig reizvoll erscheint die Hinterlassenschaft der sowjetischen Industriearchitektur. Die Rigaer Porzellanfabrik in Kengarags wurde inzwischen planiert. Auf dem Gelände wurde eine Shopping Mall errichtet, Foto: Udo Bongartz

Doch Zvirgzdins weist auf die Nachbarstädte Tallinn und Vilnius, wo nicht nur einzelne Werkshallen, sondern ganze Industrieviertel saniert wurden. Als eines der gelungenen Beispiele nannte er das Rotermann-Viertel der estnischen Hauptstadt, das einem architektonischen Zoo diverser Gebäudearten gleiche; dennoch ergebe das Ganze eine reizvolle Einheit. Das Einkaufszentrum Ogmios miestas in Vilnius, das sich auf einer 20 Hektar großen ehemaligen Militärbasis innerhalb der Stadt befindet, hält Zvirgzdins ebenfalls für eine maßgebliche Lösung. Dabei hätte die lettische Hauptstadt als ehemaliges Industriezentrum des Baltikums deutlich mehr Potenzial als seine Nachbarmetropolen. „Wir haben ein enormes Erbe aus dem industriellen Zeitalter. Wenn man Riga mit Tallinn oder Vilnius vergleicht, dann ist dieses Erbe des 19. Jahrhunderts gewiss viel umfangreicher, wenn man nicht nur Fabriken, sondern auch das ganze historische Zentrum in Betracht zieht,“ meinte Zvirgzdins. Allerdings fügte er skeptisch hinzu: „Diese Entwicklung ist bei uns im hohen Maße mit der ökonomischen Kapazität verbunden und damit ist es in Riga nun mal bestellt, wie es ist.“

Ehemalige Fahrradfabrik Leutner in Riga, Foto: Texaner, Eigenes Werk CC BY-SA 4.0, Link

Dieses historische Erbe erinnert nicht zuletzt an Deutschbalten und Reichsdeutsche, die an der Düna Fabriken errichten ließen. Stellvertretend möchte ich an dieser Stelle den in Goldingen (Kuldiga) geborenen Deutschbalten Alexander Leutner nennen, der sich nach seinem Schulabschluss nach Frankreich und England begab, um sich anzuschauen, wie Fahrräder hergestellt wurden. 1886 gründete er mit vier Beschäftigten an der Gertrudes Straße 27 in Riga die erste Fahrradwerkstätte. Das war die erste Zweiradproduktion des russischen Reichs. Die Leitnera velosipedu fabrika produzierte am Anfang etwa 20 Fahrräder pro Jahr, damals noch mit großem Vorder- und kleinem Hinterreifen. Die Rigaer Zweiräder waren recht begehrt, so dass die Produktion bis zum Weltkrieg auf 5000 pro Jahr anstieg. Leutner ließ dafür von Wilhelm Bockslaff eine neue Produktionsstätte an der Brivibas Straße 127 errichten. Dort produzierten 300 Arbeiter nicht nur Fahrräder, sondern auch Motorräder und schließlich Autos. Mit seinen Automobilen vermochte Leutner nicht zu konkurrieren, aber die Fahrräder blieben international sehr begehrt, auch in Deutschland. Während des Ersten Weltkriegs wurde die Fabrik nach Charkow evakuiert. Nach der bolschewistischen Revolution wurde er enteignet, kam vorübergehend in Haft und emigrierte 1922 nach Südtirol.

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