Wann darf man etwas “Deportation” nennen? “Ostarbeiterinnen” in Osnabrück, von den Nazis zur Zwangsarbeit verschleppt, kurz vor ihrer Ermordung von den Alliierten im April 1945 gerettet. Foto: Bert Hardy, gemeinfrei.
Die Leitmedien Lettlands werben damit, dass ihre Informationen “vertrauenswürdig” seien. Doch Einmischungen aus der Politik stellen ihre Unabhängigkeit in Frage. Das private Nachrichtenportal Tvnet.lv soll nun 8.500 Euro Strafe zahlen, weil es angeblich das Wort “Deportation” unsachgemäß verwendet habe.
Am 29. März 2023 veröffentlichte Tvnet.lv auf Russisch ein Video-Interview seines Chefredakteurs Toms Ostrovskis mit dem Abgeordneten Glorijs Roslikovs, der der Oppositionspartei Stabilitatei! angehört. Die gerade gegründete Partei schaffte bei den Saeima-Wahlen im letzten Herbst den Einzug ins Parlament. Sie wurde überwiegend von russischsprachigen Einwohnern gewählt. Thema der Sendung waren die gesetzlichen Verschärfungen für Einwohner mit russischem Pass, die fortan einen lettischen Sprachtest bestehen müssen, damit die Behörden eine Verlängerung ihres Aufenthalts genehmigen. Davon sind etwa 17.000 Einwohner betroffen, die nun um ihren Verbleib in Lettland bangen, befürchten, nach Russland abgeschoben zu werden (LW: hier). In diesem Zusammenhang sprach Roslikovs von “Deportation”. Aus lettischer Sicht handelt es sich hier um einen Propagandabegriff russischerseits, der eine unangemessene Gleichsetzung mit den stalinistischen Massendeportationen lettischer Einwohner nach Sibirien darstellt. Ein solcher historischer Trauertag ist der 14. Juni, an dem an allen Gebäuden die lettische Fahne mit Trauerflor gehisst werden muss. Am 14. Juni 1941, kurz vor dem Einmarsch der Deutschen, verfrachteten Tschekas erstmals mehr als 15.400 angebliche Regimegegner in die GULAG-Lager. Eine derartige Massendeportation wäre heute schon deshalb unvorstellbar, weil sie kaum ohne Verhandlungen mit dem ungeliebten Nachbarn stattfinden könnte. Solche sind bei den zerrütteten diplomatischen Beziehungen zwischen Riga und Moskau völlig undenkbar.
Am 18. Mai 2023 beschloss der Nationale Rat Elektronischer Massenmedien (NEPLP) gegen Tvnet eine Geldbuße von 8.500 Euro, weil das Nachrichtenportal das Wort “Deportation” unsachgemäß verwendet habe (lsm.lv). In einem langen Papier erörterten die staatlichen Medienkontrolleure die Bedeutung des Begriffs “Deportation”. Doch die Definition bleibt unklar, Deportation kann auch die Abschiebung einer Person bezeichnen, was der lettische Gesetzgeber durchaus bezweckt. Gegenüber LSM behauptete Ostrovskis, “Deportation” stehe bei der NEPLP auf der Liste der verbotenen Wörter, die man nur im “richtigen” Kontext, also im Zusammenhang mit den Deportationen des Massenmörders Stalin verwenden dürfe. Tvnet will gegen den NEPLP-Beschluss in die Berufung gehen. Ostrovskis sieht in diesem Vorgehen eine Gefahr für die Meinungsfreiheit, die von der lettischen Verfassung garantiert wird. Der Chefredakteur warnte vor Orwellschen Zuständen.
Die Behauptung, der NEPLP führe eine Liste verbotener Wörter, war eine Vorlage für den Vorsitzenden dieses Gremiums, Ivars Abolins. Er verteidigte gegenüber LSM die Geldbuße: “Ich fordere die Öffentlichkeit, insbesondere Politiker, dazu auf, keine falschen Annahmen zu verbreiten und sich an die Fakten zu halten, denn NEPLP hat die Tvnet-Gruppe nicht wegen der falschen Verwendung des Wortes “Deportation” bestraft. NEPLP erstellt keine Liste verbotener Wörter. Der Beschluss, eine Strafe zu verhängen, wurde wegen eines konkreten Gesetzesverstoßes gefasst. Der Gesetzesparagraph bestimmt, dass Medien Informationen mit hinreichender Genauigkeit verbreiten müssen. Dieser Paragraph wurde übertreten. Tvnet hat seine Schuld teilweise eingestanden. Daher ist das, was sich heute in der Öffentlichkeit zeigt, eine Verteidigungstaktik und nichts weiter. Ich betone nochmals: Die Information, die verbreitet wird, ist falsch.”
Nach Vorstellung des NEPLP-Vorsitzenden muss ein Journalist also einen Begriff, der vom Gesprächspartner geäußert wird, richtigstellen, falls er nicht präzise genug verwendet wurde. Journalisten werfen Ivars Abolins zu nahe Kontakte zur mitregierenden Nationalen Allianz vor. Deren Abgeordnete äußern des öfteren öffentlich Kritik an Journalisten, sprechen sogar von einem Kulturkampf, der sich zwischen Nationalkonservativen und den angeblich linksliberalen öffentlich-rechtlichen Medien abspiele. Unter der Führung von Abolins wurde nicht nur das staatliche russische Fernsehen, sondern wurden auch Dutzende von russischen Webportalen gesperrt. Wenn also von russischer Propaganda die Rede ist, kann sich ein lettischer Mediennutzer, der in der Regel gut Russisch versteht, keinen eigenen Eindruck davon verschaffen. Im letzten Jahr verbot NEPLP den russischen Oppositionssender Doschd, der in Riga ein Exilbüro unterhielt, weil er sein Programm nicht lettisch untertitelte und sich nicht genügend von der russischen Armee distanzierte.
Der aktuelle Streit alarmiert die lettischen Journalistenverbände, die sich in einem Brief an die zuständige Saeima-Kommission und den Saeima-Vorsitzenden Edvards Smiltens wandten (latvijaszurnalisti.lv). Bemerkenswerterweise wurde der Text zur Kenntnisnahme auch Janis Sarts, dem Leiter der NATO-Stratcom-Zentrale in Riga zugestellt. Die Medienvertreter fordern die Abgeordneten auf, die jetzigen fünf Mitglieder der NEPLP zu entlassen, weil sie nicht im Interesse der Öffentlichkeit agierten und die Meinungsfreiheit bedrohten. “Insgesamt zerstört diese Praxis das Image und die Reputation Lettlands als demokratisches Land.” Ob mit einer Entlassung der NEPLP-Mitglieder allein diese Reputation zu retten ist, scheint mir zweifelhaft. Die einseitige Berichterstattung über die Ukraine, die den Mediennutzer so manche relevante Information vorenthält, haben den Ruf lettischer Medien ohnehin geschadet. Die weithin sichtbare ukrainische Flagge auf dem TV-Turm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Riga ist in dieser Hinsicht ein fragwürdiges Zeichen.