Auch diesmal beteiligte sich nur eine Minderheit der Wahlberechtigten an der Wahl des EU-Parlaments, das nur eingeschränkte Rechte hat und über dessen tägliche Arbeit nur wenig berichtet wird. Lediglich 33,8 Prozent der lettischen Wähler gaben am 8. Juni 2024 ihre Stimme ab, deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 51,1 Prozent. Lettland wird in Straßburg bzw. Brüssel durch neun Abgeordnete vertreten. Die wirtschaftsliberal ausgerichtete Regierungspartei Jauna Vienotiba, die in den letzten Jahrzehnten die lettische Politik maßgeblich geprägt hat und auch die derzeitige Ministerpräsidentin stellt, erhielt mit 130.563 Wählern die meisten Stimmen, das waren 25,09 Prozent aller abgegebenen Wahlzettel, etwa ein Prozent weniger als bei der EU-Wahl von 2019.
Jauna Vienotiba (Neue Einigkeit, JV) ist wieder mit zwei Abgeordneten vertreten. Valdis Dombrovskis war der Spitzenkandidat, der seinen Platz im Parlament auch diesmal zur Verfügung stellen dürfte, um Mitglied der EU-Kommission zu bleiben, der er seit 2014 angehört, zuletzt in der Funktion des Handelskommissars. Zuvor amtierte er seit der Finanzkrise von 2009 bis 2013 als lettischer Ministerpräsident. Er verordnete seinen Landsleuten eine Politik der inneren Abwertung, die – ähnlich wie in Griechenland – die Wirtschaftskrise verschärfte. Viele Letten, die in ihrer Heimat kein Auskommen mehr fanden, emigrierten. Dennoch stellten ihn die Medien als Stabilisator Lettlands dar. Lettische Wähler, die einzelnen Kandidaten der Parteien Plus- und Minusstimmen verleihen können, schätzen Dombrovskis; er erhielt von allen lettischen Kandidaten die meisten Plusstimmen. Als zweite Abgeordnete wurde Sandra Kalniete für JV gewählt. Kalniete, die als Tochter Deportierter in Tomsk geboren wurde, machte ihre Kindheit einer breiten Öffentlichkeit mit einem Buch bekannt, das auch ins Deutsche übersetzt wurde: “Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee.” Die gelernte Kunsthistorikerin gehört zu den Hardlinern in der internationalen Politik. Russland verhängte gegen die ehemalige Diplomatin ein Einreiseverbot. Für JV kandidierte auch Krisjanis Karins, der bis 2023 Ministerpräsident war. Er geriet in die Kritik, weil er sich auf Staatskosten zuviele Charterflüge genehmigt hatte. Nun wurde er mit den meisten Minusstimmen abgestraft und wird nicht für Dombrovskis nachrücken. Obwohl JV der Wahlsieger ist, zeigt sich bei dieser Partei eine negative Tendenz: 2014 wählten 46,2 Prozent die Vorgängerpartei “Vienotiba”. Damals stellte die Partei vier Abgeordnete. Im EU-Parlament ist Jauna Vienotiba Mitglied der Europäischen Volkspartei, der auch CDU und CSU angehören.
Zweitbestes Ergebnis erzielte das nationalkonservative, teilweise rechtsradikale Parteienbündnis Nationale Allianz (NA), das in Straßburg bzw. Brüssel ebenfalls zwei Abgeordnete stellt. Im Vergleich zur EU-Wahl von 2019 konnte die Allianz mit 22,8 Prozent nochmals um mehr als sechs Prozent zulegen, was ihr allerdings keinen zusätzlichen Sitz einbrachte. Langjähriger, smarter Vertreter der NA auf EU-Ebene ist Roberts Zile, der von der nationalkonservativen Wählerschaft die meisten Stimmen auf sich vereinigte. Zweiter NA-Vertreter ist Rihards Kols. Er errang mit Polemiken gegen die russischsprachige Minderheit Aufmerksamkeit. Als 2015 im lettischen Parlament über die Aufnahme von Flüchtlingen debattiert wurde, forderte Kols, dass man bei der damals diskutierten möglichen Einführung von Flüchtlingsquoten für EU-Länder auch russischsprachige Migranten, die seit Jahrzehnten in Lettland lebten, als Flüchtlinge zählen müsse. Die NA hatte mit ihren Forderungen, gegen die russische Minderheit Assimilationspolitik zu betreiben, großen Erfolg. Seitdem Valdis Dombrovskis sie 2011 in die Regierung aufnahm, erreichten die Nationalkonservativen, Russisch als Unterrichtssprache an den Minderheitenschulen schrittweise zu verbieten. Inzwischen hat Lettland sogar beschlossen, an staatlichen Schulen das Fach Russisch abzuschaffen (LW: hier). Die NA wendet sich strikt gegen Russland und folgt im Krieg gegen die Ukraine bedingungslos den Positionen von Wolodimir Selenski und der NATO. Das Verhältnis zu Wladimir Putin lässt sich als paradox beschreiben: Als Vertreter Russlands, der befahl, ein Nachbarland anzugreifen, ist er der Hauptfeind der NA. Andererseits teilen die Nationalkonservativen viele seiner Grundhaltungen: Eine patriarchalische Hierarchie mit klar definierten Geschlechterrollen, Schutz der traditionellen Familie, die angeblich wegen “woker” Propaganda gefährdet ist, Kritik an der LGBT-Bewegung. Wie die russische Regierung sehen sich auch die lettischen Nationalkonservativen im Kulturkampf gegen vermeintlich linksliberale Einflüsse aus dem Westen. Die NA ist Teil der EU-Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), der auch die postfaschistischen Fratelli d`Italia, die rechtsradikalen Schwedendemokraten und die polnische, nationalkonservative PIS angehören.
Weitere fünf Parteien errangen jeweils einen Platz. Nils Usakovs, der ehemalige Bürgermeister Rigas, vertritt Saskana, die Partei der lettischen Sozialdemokraten, die vor allem von der russischsprachigen Minderheit gewählt wird. Für viele Jahre stellten die Sozialdemokraten die stärkste Fraktion in der Saeima, wurden aber von den übrigen Parteien in der Opposition isoliert. Als nach dem 24. Februar 2022 Saskana-Abgeordnete den russischen Angriff verurteilten, reagierte ihre Wählerschaft mit Stimmentzug, so dass die Partei bei der letzten Saeima-Wahl nicht einmal die Fünf-Prozent-Hürde schaffte. Auch auf EU-Ebene hat Saskana ihren zweiten Abgeordneten verloren, schneidet aber mit 7,14 Prozent etwas besser ab als bei den letzten Saeima-Wahlen. Der Sozialanthropologe Ivars Ijabs (der über hervorragende Deutschkenntnisse verfügt), wird erneut die liberale Partei Latvijas Attistibai (Für Lettlands Entwicklung, LA) vertreten. Auch die ehemalige Regierungspartei scheiterte bei der letzten Saeima-Wahl an der Fünf-Prozent-Hürde, bei der EU-Wahl erreichte sie nun 9,36 Prozent. Reinis Poznaks wird im EU-Parlament das Bündnis Apvienotais Saraksts (Vereinigte Liste, AS) vertreten, das 2022 gegründet wurde. Ihm gehören Grüne und Regionalparteien an. Die AS war eine Fraktion der Karins-Regierung und stellte mehrere Minister. Nachdem nach der letzten Saeima-Wahl die Zalo un Zemnieku Savieniba (Union der Grünen und Landwirte, ZZS) in die Regierung aufgenommen wurde, entschied sich AS für die Opposition. Kurz zuvor waren die Grünen aus der ZZS ausgetreten, weil die Bauernallianz von ihrem engen Verhältnis zum Ventspilser Politiker und Unternehmer Aivars Lembergs nicht lassen wollte, der nach jahrzehntelang dauerndem Prozess mittlerweile wegen Korruption inhaftiert ist. Martins Stakis folgte Usakovs als Bürgermeister in Riga und wechselte nach seinem Rücktritt vom Amt zu den Progresivie. Nun eroberte er für die neue Partei einen Sitz im EU-Parlament. Die Progressiven, die 2017 gegründet wurden, wollen sich als linksliberale und sozialdemokratische Alternative zu den sonstigen, mitterechts bis rechts orientierten lettischen Parteien profilieren. Doch ihr frühes Mitregieren ließ kaum Gelegenheit zur Entwicklung eigener Positionen. Im Konflikt mit Russland und in der Assimilierungspolitik gegen die russische Minderheit wurden die Progressiven nicht mit alternativen Vorschlägen bekannt. Mit der geringsten Stimmzahl zieht noch Vilis Kristopans für die Partei Latvija Pirmaja Vieta (Lettland an erster Stelle, LPV) nach Straßburg bzw. Brüssel. Die LPV ist das neueste Projekt von Ainars Slesers, der von seinen Gegnern als Oligarch bezeichnet wird. Im Gegensatz zu den übrigen lettischen Parteien wirbt die LPV um Stimmen der russischsprachigen Minderheit und hat damit Erfolg. Bei der letzten Saeima-Wahl schaffte die LPV die Fünf-Prozent-Hürde. Bei der EU-Wahl erreichte die LPV nun 6,16 Prozent.