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Screenshot von Vaticannews

Papst Franziskus sprach am 25. August 2023 via Videokonferenz mit Teilnehmern der katholischen Jugend Russlands, die sich in Sankt Petersburg versammelt hatte. Franziskus sagte unter anderem:

“Vergesst euer Erbe nicht. Ihr seid die Erben des großen Russlands: das große Russland der Heiligen, der Könige, das große Russland Peters des Großen, Katharina II., jenes großen russischen Reichs [im Original: “quell`impero russo”], kultiviert von großer Kultur, großer Menschlichkeit.”

Diese Sätze empörten. Das lettische Nachrichtenportal Jauns.lv übersetzte das italienische Wort “impero” mit “imperija” und gelangte so zur Schlagzeile: “Papst rühmt die Tradition des russischen Imperialismus” und nannte Franziskus` Äußerungen einen “Skandal” (jauns.lv). Andere lettische Portale berichteten mit ähnlichem Empörungsmanagement.

Der lettische Journalismus, der den Rest der päpstlichen Ansprache nicht zur Kenntnis nahm, solidarisiert sich damit zum wiederholten Male mit der Regierung Selenskis. Oleg Nikolenko, Sprecher des ukrainischen Außenministeriums, hatte nach Angaben von Tvnet die Papstworte als “sehr unglücklich” bezeichnet. Gerade mit dieser “imperialistischen Propaganda”, den “geistlichen Bindungen” und der “Notwendigkeit”, die “große Mutter Russland” zu retten rechtfertige der Kreml „die Tötung tausender Ukrainer und die Zerstörung hunderter ukrainischer Städte und Dörfer” (tvnet.lv).

Nikolenko bewertete es als “sehr traurig, dass Russlands Ideen staatlicher Größe, die in Wirklichkeit die Ursache für Russlands chronische Aggressivität darstellen, bewusst oder unbewusst aus dem Munde des Papstes ertönen, obwohl seine Mission nach unserem Verständnis beinhaltet, der russischen Jugend die Augen über den derzeitigen destruktiven Kurs der russischen Regierung zu öffnen.”

Ein baltischer Politiker sekundierte der ukrainischen Sichtweise, den Tvnet ebenfalls zitiert (tvnet.lv). Gitanas Nauseda, litauischer Staatspräsident, bezweifelte gegenüber Journalisten die Geschichtskenntnisse des Papstes, der gebürtiger Argentinier ist: “Wissen Sie, der Papst ist eine Autorität in Glaubensfragen, aber das bedeutet nicht automatisch, dass er eine Aurorität in Geschichtsfragen ist und zuweilen mag Russlands Geschichte oder unserer Region, die Geschichte unseres Kontinents etwas anders aussehen als von Argentinien aus betrachtet. Es ist möglich, dass auch meine Kenntnisse über Argentiniens Geschichte im offensichtlichen Widerspruch [zu ihr] stehen könnten.” Dann erteilte Nauseda dem Papst noch eine moralische Belehrung: “Im Ernst gesprochen, ich denke, dass dies eine äußerst heikles Thema ist und sehr sorgfältig überlegt werden müsste, bevor man solche Erklärungen anstellt, denn diese Äußerungen beleidigen viele Menschen, besonders jene, die derzeit im sinnlosen Krieg in der Ukraine Blut vergießen.” Das litauische Außenministerium hat den örtlichen Nuntius, den Vertreter des Vatikans in Vilnius, für Anfang September einbestellt.

Dmitri Peskow, Pressesprecher des russischen Präsidenten, lobte hingegen die päpstlichen Geschichtskenntnisse; das russische Erbe sei “nicht nur auf Peter I. oder Katharina II. beschränkt, sondern beträchtlich älter”. Zum Misstrauen gegenüber den Worten Franziskus` trug die Presseabteilung des Vatikans selbst bei, weil sie in ihrem Bericht über die päpstliche Ansprache die kritisierten Sätze zensiert hatte (vaticannews.va). Das deutet darauf hin: Franziskus hat in seiner Haltung zum Ukraine-Krieg Gegner in den eigenen Reihen, die für ihn “zurückruderten”.

Am 29. August 2023 veröffentlichte Vaticannews eine Stellungnahme des vatikanischen Pressedirektors Matteo Bruni: “Mit Grußworten, die sich aus dem Stegreif an einige katholische Jugendliche Russlands in den letzten Tagen richteten, beabsichtigte der Papst, wie aus dem Kontext, in dem er sie äußerte, klar hervorgeht, die Jugendlichen zu ermutigen, das Positive zu bewahren und zu fördern, das sich im großen kuturellen und spirituellen Erbe Russlands befindet und gewiss nicht, um imperialistische Logik und herrschende Persönlichkeiten zu verherrlichen, die zitiert wurden, um auf einige historische Perioden Bezug zu nehmen.” (vaticannews.va)

Franziskus hatte die russische Jugend aufgefordert, sich inmitten des Krieges auf den Frieden zu spezialisieren: “Ich wünsche euch jungen Russen die Berufung, Handwerker des Friedens inmitten der vielen Konflikte zu sein, inmitten so vieler Polarisierungen, die auf allen Seiten bestehen, die unsere Welt bekümmern. Ich lade euch ein, Säleute zu werden, um den Samen der Versöhnung zu streuen, kleine Samen, die in diesem Winter des Krieges im gefrorenen Boden im Moment nicht keimen, aber die im zukünftigen Frühling gedeihen werden. Wie ich es in Lissabon gesagt habe: Habt den Mut, die Ängste durch Träume zu ersetzen. […] Seid keine Verwalter der Ängste, sondern Unternehmer der Träume. Erlaubt euch den Luxus der großen Träume!”

Franziskus wird von baltischen Politikern und Journalisten argwöhnisch betrachtet, weil er den Narrativen des Westens über den russisch-ukrainischen Konflikt nicht folgt. Er erinnert an die Vorgeschichte des Konflikts und problematisiert die NATO-Osterweiterung. Er nannte nicht nur die Verletzung territorialer Grenzen, sondern auch die Missachtung von Minderheitenrechten als Kriegsursache. Vom ukrainischen Staatspräsidenten fordert er mehr Verhandlungsbereitschaft. Wolodimir Selenski hingegen formuliert unrealistische Maximalforderungen, um mit dem Kreml in Verhandlungen zu treten. Während das westliche Establishment sich der ukrainischen Propaganda anschließt, bemüht sich der Papst außerhalb der westlichen Welt um Bündnispartner für seine Bemühungen um einen sofortigen Waffenstillstand. Im brasilianischen Staatspräsidenten Lula da Silva hat er einen Gesinnungsfreund gefunden.

Es ist erstaunlich, dass ein Grundsatz der Diplomatie, für ein Land lobende Worte zu formulieren und Kritik zwischen den Zeilen zu äußern, inzwischen in Verruf geraten ist. Andrij Melnik, bis vor wenigen Monaten Botschafter in Deutschland und heutiger Vizeaußenminister der Ukraine, setzte in Sachen Diplomatie neue Maßstäbe: Mit Beleidigungen und Belehrungen, die sich gegen die deutsche Entspannungspolitik richteten, hatte der Bandera-Verehrer Erfolg: Die Berliner Regierung wurde zu einem der größten Waffenlieferanten für die Ukraine und befindet sich seitdem im “Zeitenwende”-Modus.

Auch die linke italienische Zeitung Il manifesto berichtete über den angeblichen Skandal. Man versuche in dieser kriegerischen Zeit, die auch eine Zeit der Kriegspropaganda sei, eine der wenigen Stimmen des weltweiten Pazifismus, die eigene (bellizistische) Position aufzuzwingen. Offenbar habe niemand die Worte des Papstes begriffen oder gebe vor, sie nicht zu begreifen, die einer reichen Kultur und nicht einer Regierung huldigten. (ilmanifesto.it)

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