Mi. Apr 24th, 2024
Screenshot der Webseite Connection e.V., die Deserteure unterstützt.

Foto: Screenshot der Webseite Connection e.V., die Deserteuren hilft.

Ukrainischer Pazifist fordert das Ende der Waffenlieferungen und endlich Verhandlungen

Der Journalist und Pazifist Andreas Zumach bezeichnete in einem Vortrag für die Oldenburger Werkstatt Zukunft das, was er am Rande der Münchener “Sicherheits”-Konferenz auf einer Pro-Ukraine-Kundgebung sehen und hören musste, als einer der Tiefpunkte seines Lebens. Er habe zu Kriegsbeginn vor den Folgen des russischen Angriffs gewarnt, nämlich vor der Entstehung von “antirussischen Ressentiments”. Doch er bekannte: “Das war eine viel zu harmlose Beschreibung. Am Samstag auf diesem Kundgebungsplatz habe ich einen fanatischen Nationalismus erlebt, ich muss es leider sagen, mit ständig vom Podium angeheizten Sprechchören übelster Art und als dann etwa für zehn Minuten der Demonstrationszug der klassischen Friedensbewegung – abgesperrt durch große Gitter und Polizei – vorbeizog, wurde vom Podium dieser Kundgebung minutenlang der Slogan `Lumpenpazifisten, geht doch zu Putin` gerufen und gemein mit dieser Kundgebung und diesen Sprüchen machten sich die Bundestagsabgeordneten Anton Hofreiter [Grüner], Florian Hahn, das ist ein CSUler, Roderich Kiesewetter, das ist ein CDUler und Frau Strack-Zimmermann von der FDP sowie die bayrische Landesvorsitzende der SPD, die alle auf der Bühne standen und dann auch gesprochen und zum Teil mitgerufen haben.” (youtube.de) Der Verrohung des Diskurses scheinen keine Grenzen mehr gesetzt, besonders in Osteuropa, gerade an der baltischen Ostflanke, wo man schon die Aufteilung Russlands erträumt, ist er besorgniserregend beschränkt, militant, polemisch einseitig (tvnet.lv). Wer sich pazifistisch äußert, hat eine massenmedial bearbeitete Mehrheit gegen sich, die lieber über als mit den Angefeindeten redet als sich die journalistisch eingebläute Meinung verderben zu lassen. Da wird es Zeit, dass ein ukrainischer Pazifist zu Wort kommt. Yurii Sheliazhenko vertritt eine kleine Gruppe in der Ukraine, die der täglichen Kriegspropaganda widersteht.

Der Ukrainer orientiert sich an Leo Tolstoi, Martin Luther King and Mahatma Gandhi, als Kriegsdienstverweigerer unterstützt er gleich handelnde Gesinnungsgefährten, um den Gefängnissen ihres Landes zu entgehen. Der studierte Jurist und Konfliktmanager lebt unter schwierigen Umständen in Kiew. Sein Zusatzstudium an der Uni Münster kann er nicht antreten, weil ihm die Regierung wie anderen unter 60jährigen Männern die Ausreise verweigert. Sheliazhenko meldet sich auf Youtube mit Vorträgen – auch in englischer Sprache – regelmäßig zu Wort. In ihnen entlarvt er die Einseitigkeit der NATO-Propaganda, die er für genauso verlogen und militant hält wie die russische. Die Bezeichnung Ukrainian Pacifist Movement scheint ein großes Wort für seine Organisation zu sein, die gerade mal zehn Mitglieder hat. Doch sie hat Dutzende Sympathisanten und ihr folgen Tausende im Internet; aber sie muss gegen die mächtige Ignoranz der westlichen Medien ankämpfen. Sie ist Sprachrohr jener offenbar nicht wenigen heimlichen Teile der ukrainischen Bevölkerung, die der Propaganda des verkündeten Siegfriedens ihrer nationalistischen Regierung nichts abgewinnen kann. Die Kalifornierin Marcy Winograd, die die Peace in Ukraine Coalition und Codepink-Kontakte koordiniert, interviewte ihn für die Webseite CounterPunch.org am 19. Januar dieses Jahres.

Sheliazhenko zeigt sich über den Zustand der Medien seines Landes, die von Oligarchen beherrscht werden, entsetzt: “Die blühende Zivilgesellschaft der Ukraine wurde durch einen kriegstreiberischen Mainstream vergiftet. Dreister Militarismus beherrscht Medien, Bildung und die gesamte öffentliche Sphäre.” Die öffentliche Friedenskultur ist schwach und zerrüttet; Bekundungen zum Frieden seien auf heuchlerische Weise verbunden mit Fortschritten im Krieg. “Ohne eine solch übliche Heuchelei wäre es unmöglich für die herrschende Elite, Zustimmung für das quälend ehrgeizige Ziel eines `Friedens durch Sieg` herzustellen.”

Das ukrainische Presseunwesen hat sich wie eine Pandemie auf andere Länder verbreitet. Die emotional aufgeladenen, pseudomoralischen und tendenziösen TV-Diskussionen im deutschen Fernsehen, in denen die Selenski-Versteher, häufig Waffenlobbyisten und Vertreter fragwürdiger Think Tanks, über Kritiker von Waffenlieferungen, zu denen die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot zählt, gleich einer Meute herfallen (youtube.com), betreiben und fördern das Geschäft der ukrainischen Elite und reden nicht im Namen der weniger begüterten Bevölkerung, die täglich um ihre physische Existenz und ihr Hab und Gut bangen muss, die von einer wiedereroberten Krim nichts hat und endlich aufatmen könnte, wenn ein Waffenstillstand unverzüglich erreicht würde. Doch Selenski verweigert Verhandlungen, bis der Endsieg errungen ist (dann bräuchte man keine mehr, sondern könnte Russland diktieren, aufteilen). Und osteuropäische Regierungen, allen voran Polen und Balten, folgen ihm blindlings.

Sheliazhenko schildert seine Landsleute sympathisch, wenn er beschreibt, dass sie sich dem propagierten Heldentum verweigern: “Die Leute entziehen sich dem obligatorischen Militärdienst, so wie es viele Familien durch die Jahrhunderte machten, indem sie Bestechungsgelder zahlen, umziehen, andere Schlupflöcher und Ausnahmen finden, zur selben Zeit verkünden sie verbal ihre Zustimmung zur Armee und spenden für sie. Laute Versicherungen politischer Loyalität treffen auf passiven Widerstand gegen gewaltsame Bestimmungen, für den man einen passenden Vorwand findet. Dasselbe passiert in den besetzten Gebieten der Ukraine und übrigens: Auf diese Art funktioniert meistens auch der Kriegswiderstand in Russland und Belarus.”

Offener Widerstand gegen den Militarismus ist allerdings heikel und kommt ins Visier staatlicher Verfolgung. Sheliazhenko vermied es, für den Kriegsdienst registriert zu werden, konnte sich aus “akademischen Gründen” entziehen, ein Privileg, dass Nichtakademikern verweigert wird. Doch auch anderen gelinge es, sich dem Missbrauch der Herrschenden, als Kanonenfutter verheizt zu werden, zu entziehen. Es gebe die Tradition des Widerstands aus Zeiten des zaristischen Imperiums und der Sowjetunion, als die Machthaber den Ukrainern die Wehrpflicht aufbürdeten und abweichende Meinungen verfolgten.

Das ukrainische Kriegsrecht verbietet das Gewissen; Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht erlaubt. Die ukrainischen Pazifisten fordern, dass ihre Regierung der mehrmaligen Empfehlung des UN-Menschenrechtskomitees folgt und die Weigerung, mit der Waffe zu töten und zu morden, endlich als Menschenrecht gewährt. Aber selbst in Friedenszeiten sei nur für einige wenige privilegierte Mitglieder religiöser Gruppen, die sich öffentlich dem Militarismus nicht widersetzten, gestattet worden, einen Ersatzdienst anzutreten, der diskriminierend war und den Charakter einer Strafe hatte.

Wer sich weigert, für eine Mobilisierung registriert zu werden, riskiert fünf Jahre Haft. Aber diese wird häufig zur Bewährung ausgesetzt. Dann muss man sich zwei Mal im Monat mit seinem Bewährungshelfer treffen, sich Kontrollen in der Wohnung und am Arbeitsplatz, Tests und Belehrungen unterziehen. Wer nicht bereut oder dessen Testergebnisse Zweifel über die geforderte Militanz ergeben, der muss die Haft antreten.

Die ukrainischen Grenzwächter lauern Männern, die vor dem Krieg fliehen, auf. Jene, die es versuchen, handeln unter Lebensgefahr. Dutzende von ihnen ertranken in einem Grenzfluss oder erfroren in den Karpaten. “Unser Mitglied, ein Dissident aus der Sowjetzeit, Kriegsdienstverweigerer und Profi-Schwimmer Oleg Sofianyk beschuldigt Präsident Selenski für alle diese Toten und für die Installierung eines neuen Eisernen Vorhangs rund um die Ukraine und ich stimme ihm vollständig zu, dass diese autoritäre Politik der Zwangsmobilisierung, die Gewissensfreiheit verachtet, eine moderne militaristische Knechtschaft schafft.”

Die ukrainischen Grenztruppen haben laut Sheliazhenko schon mehr als 8000 Männer gefangen genommen, die zu entkommen versuchten. Sie wurden in Rekrutierungszentren gebracht und enden möglicherweise an der Front; dort landen viele gegen ihren Willen. Nachbarländer unterstützen den ukrainischen Militarismus und beteiligen sich an der Jagd: “Neulich ergab sich eine äußerst tragische Situation, als sechs Leute nach Rumänien flohen, zwei erfroren unterwegs und vier wurden dort festgenommen.” Die ukrainischen Medien stellten sie als Deserteure und Drückeberger dar. In Rumänien baten sie um Asyl, die Pazifisten hoffen, dass sie nicht der Ukraine ausgeliefert werden. Eine derartige Pazifismusbekämpfung betreibt auch die lettische Regierung, die es sogar ablehnt, russischen Kriegsdienstverweigerern Asyl zu gewähren.

Doch ist Kriegsdienst in der ukrainischen Armee nicht moralisch geboten, in der sich der Gefreite gegen Autoritarismus und Imperialismus im Sinne westlicher Werte, Demokratie und Freiheit zur Wehr setzt? Sheliazhenko könnte solchen Floskeln nichts abgewinnen. Er weist auf die geopolitische Verantwortungslosigkeit der USA, deren Politik nach der Strategie des ehemaligen US-“Sicherheits”-Beraters Zbigniew Brzezinski funktioniert, der einst die Welt als großes Schachbrett beschrieb, auf der das US-Imperium nach Vorherrschaft über den eurasischen Kontinent trachtet, weshalb die Ukraine als Bauernopfer herhalten muss. “Wir kämpfen bis zum letzten Ukrainer,” fasste US-Diplomat Chas Freeman die zynische Politik der Herrschenden seines Landes zusammen; es gebe dort “eine Menge Leute”, die im Sinne des militärisch-industriellen Komplexes Gefallen an einem langen Krieg finden (zlv.lu).

Die USA profitieren vom Leid in fremden Regionen. George Friedman, Gründer des Think Tanks Stratfor, erläuterte, wie nützlich es für US-Präsident Ronald Reagan war, sowohl den Irak und (heimlich) den Iran mit Waffen zu beliefern, damit sie sich in den 80er Jahren wechselseitig im blutigen Gemetzel schwächten. Friedmans größte Sorge ist, dass die Beziehungen Deutschlands zu Russland zu harmonisch werden könnten und die USA ihren Einfluss auf Europa verlieren (youtube.com). Also ist die den um vorzeitigen Abstieg fürchtende Weltmacht bestrebt, auch an der NATO-Ostflanke das Chaos zu schüren.

Sheliazhenko beobachtet, wie die USA darauf zielen, seine Region in einen neuen blutigen Nahen Osten zu verwandeln: “Die sogenannte Langstreckenstrategie des ukrainischen Sieges, die vom Atlantic Council, einem führenden Think Tank der US-amerikanischen Ukraine-Politik, die vorschlägt, russische Angebote eines Waffenstillstandes abzulehnen und die Ukraine nach dem US-israelischen Modell zu unterstützen, bedeutet, Osteuropa für viele Jahre in den Nahen Osten zu verwandeln, um Russland zu schwächen, was offensichtlich nicht geschehen wird angesichts der wirtschaftlichen Kooperation zwischen Russland und China.”

Sheliazhenko beobachtet auch, was die wohldotierte westliche Expertokratie in seinem Land und in Europa anrichtet, deren Abgesandte verharmlosen die Weltkriegsgefahr, das nukleare Inferno: “Ehemalige NATO-Funktionäre fordern ein direktes Eingreifen in den Krieg in der Ukraine ohne Furcht vor nuklearer Eskalation und Diplomaten fordern auf den Veranstaltungen des Atlantic Council den totalen Sieg der Ukraine. Diese Sorte Experten half dem Büro des Präsidenten Selenski, den sogenannten Kiew-Sicherheits-Vertrag zu schreiben, der jahrzehntelang die Lieferung westlicher Waffen für einen Verteidigungskrieg vorsieht, mit totaler Mobilisierung der ukrainischen Bevölkerung.”

Das deutsche Propaganda-Wort “Zeitenwende” lässt sich als Schlagwort pazifistisch umdeuten: Die zum Krieg treibenden Medien befördern den barbarischen Rückfall öffentlicher Gesinnung in für überwunden gehaltene Zeiten. Aber für Sheliazhenko sind sie nicht fähig, für die irrationale Anbetung militarisierter Grenzen und die aus heidnischer Zeit stammende Idee, mit Blut geheiligte Grenzen zu ziehen, eine überzeugende Erklärung zu liefern. “Militaristen setzen eben auf die Unkenntnis der Bevölkerung in der Friedensfrage, Mangel an Bildung und kritischem Nachdenken über derart archaische Konzepte der Souveränität”.

Auf die Entgegnung, dass Pazifismus nicht funktioniere, pflegt Andreas Zumach zu antworten, dass noch nirgends auf der Welt pazifistische Konzepte erprobt wurden. Ansatzweise war das aber doch der Fall, man denke an den gewaltlosen Widerstand Mahamat Gandhis, an den Kapp-Putsch oder auch an die Singende Revolution der Balten, die sich gewaltlos gegen die hochgerüstete Okkupationsmacht zur Wehr setzte. Von diesem Geist ist in diesen Ländern nach jahrzehntelanger transatlantischer Beschallung in Funk und Fernsehen nichts mehr geblieben.

Das pazifistische Konzept sozialer Verteidigung, das in den USA Gene Sharp und in Deutschland Theodor Ebert entwickelten, ist eine anspruchsvolle Art, die viel Schulung und demokratisches Engagement bedürfte, die Zivilgesellschaft gegen militärische Gewalt und herrschaftliche Bedrohung von innen und außen durch Entzug der Kooperationsbereitschaft, Streiks, gewaltlose Sabotage und Installierung einer Gegenöffentlichkeit zu verteidigen. Nicht ansatzweise sind einer größeren Öffentlichkeit diese Konzepte bekannt.

Sheliazhenko beschreibt die Folgen der allgemeinen Unkenntnis: “Wenn den Menschen das Wissen und der Mut fehlt, um zu begreifen, wie man lebt, regiert und sich der Ungerechtigkeit ohne Gewalt widersetzt, werden Wohlstand und Hoffnungen auf eine bessere Zukunft dem Moloch Krieg geopfert. Um diese Tendenz zu ändern, brauchen wir die Entwicklung eines innovativen Ökosystems des Friedens und einer gewaltlosen Art zu leben, einschließlich Medien des Friedens und Erziehung zum Frieden, öffentliche friedensschaffende Dialoge auf speziellen Foren, die für Zivilisten aus allen kriegsführenden Ländern sicher erreichbar sind, Foren der Entscheidungsfindung und der Hochschulen und Friedensmärkte aller Art, die strukturell von militaristischer Dominanz geschützt werden und die für wirtschaftliche Akteure attraktiv sind.”

Zuletzt fragte Marcy Winograd, wie US-amerikanische Antikriegsaktivisten ihre Gesinnungsgefährten in der Ukraine unterstützen könnten. Sheliazhenko meint, dass die ukrainische Friedensbewegung mehr praktisches Wissen, materielle Ressourcen benötigt, um die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Die Kultur seines Landes sei militarisiert, weil sie sich an den Westen anlehne, sie verachte die Friedenskultur auf der Basis demokratischer Werte.

Sheliazhenko hofft auf die Entstehung einer weltweiten Friedensbewegung. Er unterhält Kontakte zu italienischen Aktivisten und anderen westeuropäischen Ländern. “Es gibt auch einige Organisationen in Europa wie Connection e.V., Movimento Nonviolento und Un Ponte Per, die der ukrainischen Friedensbewegung helfen. […] Besonders wichtig ist die Arbeit von Connection e.V., die Kriegsdienstverweigern und Deserteuren aus der Ukraine, Russland und Belarus hilft, Asyl in Deutschland und anderen Ländern zu finden.”

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