Mo.. März 10th, 2025

Der Journalist Romans Sklenniks gab am 12. Februar 2025 dem in Japan lebenden Pascal Lottaz ein aufschlussreiches Interview via Internet. Es liegt inzwischen auch in deutscher Übersetzung und reißerischem Titel vor: „Der baltische Selbstmord – Baltische Tragödie: NATO/EU rüsten sich für den Krieg“ (youtube.de). Solche Überschriften sind aber für YouTube-Beiträge nicht ungewöhnlich. Thema war die lettische und baltische Situation aus der Perspektive der russischen Minderheit. Lottaz arbeitet für den YouTubeKanal Neutrality Studies. Der gebürtige Schweizer, der der sozialdemokratischen Partei seines Heimatlandes angehört, befragte schon viele Wissenschaftler, Politiker, Diplomaten und staatliche Vertreter mit prominentem Namen, die aufgrund ihrer abweichenden Meinung zum Ukraine-Krieg in den Mainstream-Medien kaum noch zu Wort kommen. Nun interviewte Lottaz Sklenniks. Er wurde als Angehöriger der russischsprachigen Minderheit in Lettland geboren und lebte dort zumindest bis 2023. Obwohl er im Gespräch die lettische Politik scharf kritisierte, meinte Sklenniks, er sei gegenüber Lettland stets loyal gewesen; Lettisch beherrsche er besser als Russisch. Aus seinen Äußerungen geht nicht hervor, dass er 2023 Lettland verlassen hatte.

Sklenniks arbeitete zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine als Video-Korrespondent. Er erhielt für lettische Medien den Auftrag, ins Kriegsgebiet zu reisen und von dort zu berichten. Lettische Kollegen kritisierten danach, dass er „Kreml-Narrative“ verbreite. Diese Informationen fehlen im YouTube-Video. Sie sind nachzulesen in einem ausführlichen Beitrag von Guntis Scerbinskis, der für den lettischen Privatsender TV3 im Februar 2023 ebenfalls ein Interview mit ihm führte (zinas.tv3.lv). Damals war der Korrespondent nach Belarus umgezogen, wo er vielleicht immer noch wohnt. Aus dem Interview mit Pascal Lottaz geht sein aktueller Wohnort nicht hervor, man hat den Eindruck, dass er sich in Lettland aufhält. Die Interviewer hatten unterschiedliche Zielsetzungen: Lottaz thematisierte, wie sich die Assimilierungspolitik auf die russischsprachige Minderheit auswirkt, den einseitigen Diskurs über das ukrainisch-russische Kriegsgeschehen, der Einfluss der NATO-Stratcom-Propaganda auf die lettische Öffentlichkeit und die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionspolitik. Scerbinskis versuchte hingegen, Sklenniks als Kreml-Propagandist zu entlarven, der zweifelhafte Information verbreite, die nützlich für die belarussische Propaganda seien. Es ist aufschlussreich, die Informationen aus diesen beiden Interviews gegenüberzustellen.

Scerbinskis beschrieb, welche Haltung Sklenniks bei seinen Beiträgen aus der Ukraine einnahm. Als Kriegsreporter berichtete er über fehlende Siegeszuversicht bei ukrainischen Soldaten, hohen Verlusten auf ukrainischer Seite, Kriegsversehrten auf den Straßen und darüber, dass die Frage, ob die ukrainische Armee Territorien zurückgewinnen könne, in der ukrainischen Gesellschaft nicht von Belang sei. Viele im Osten der Ukraine, nicht nur in den besetzten Gebieten, sympathisierten mit Putin, auch wenn sie es aus Furcht vor dem Geheimdienst öffentlich nicht zugäben. Nach seiner Rückkehr nach Lettland erhielt Sklenniks wahrscheinlich keine Aufträge mehr. Nach Ansicht von Kollegen und Vorgesetzten, die Scerbinskis befragte, habe er sich damals „verändert“. Der TV3-Journalist kommentierte diese Sicht der Dinge skeptisch und forderte vom Korrespondenten Sklenniks Belege ein, die an wissenschaftliche Beweisführung erinnern. Dass ein Reporter vor Ort subjektive Eindrücke vermittelt und dabei keine demoskopische Untersuchung durchführen kann, ist ihm m.E. kaum anzukreiden. In beiden Beiträgen wird deutlich, dass Sklenniks die Lage der Ukraine nicht nur wegen des Krieges als katastrophal erachtet. Er weist auf die miserable Situation des Landes hin, die der Westen verursacht habe. Als einen Grund dafür nennt er das EU-Assoziierungsabkommen von 2013, das die wichtigen Handelsbeziehungen der Industrieregion Donbas mit Russland unterband. Sklenniks zeichnet die wirtschaftliche und soziale Situation der Ukrainer in düsteren Farben. Ökonomie, Sozialstaat und das Gesundheitssystem des Landes seien ruiniert.

Sklenniks scheint sich bewusst, dass diese Sicht der Dinge der belarussischen Propaganda zupass kommt. Scerbinskis erwähnt ein Interview, das er der regierungsnahen belarussischen Nachrichtenagentur BelTA gab. Seine Kritik am Westen wird von den belarussischen Machthabern gewiss gern vernommen. Zudem äußert sich Sklenniks recht positiv über die belarussischen Zustände; er sei erstaunt darüber, wieviel eine solch kleine Wirtschaft produzieren könne. Dass Exilanten die Zustände im Aufnahmeland beschönigen, ist eine nachvollziehbare Haltung; sie wollen nicht erneut in Ungnade fallen. Dies lässt sich auch in umgekehrter Richtung beobachten, beispielsweise bei der belarussischen Star-Oppositionellen Swjatlana Zichanouskaja, die Zuflucht in Litauen fand. Sie identifiziert sich vollständig mit NATO-Zielen und befürwortet einen – womöglich blutigen – Umsturz in ihrem Heimatland. Belarussische AktivistInnen hingegen, die auch die westliche Politik kritisieren, haben einen deutlich schwierigeren Stand; darauf macht Olga Karach aufmerksam, die als Pazifistin in Litauen unerwünscht scheint (LW: hier).

Seine skeptische Perspektive über den Einfluss des Westens überträgt Sklenniks auf die baltischen Länder. Die antirussische Sanktionspolitik, die besonders von baltischen Regierungen auf EU-Ebene eingefordert wurde, habe sich als Schuss ins eigene Knie erwiesen. Er wies auf den Zusammenhang zwischen dem Verbot, fossile Brennstoffe aus Russland zu beziehen, und den drastisch gestiegenen Energiepreisen in den baltischen Ländern. Die dadurch verursachte Inflation trifft vor allem die ärmere Bevölkerung hart. Nach der Jahrtausendwende hätte Lettland noch als Tor des Westens zu Russland gegolten. Lettland konnte als Transitland Geschäfte machen. Doch nun grenzt es sich buchstäblich mit hohen Zäunen gegen Osten ab. Es sei ein „depressiver Außenposten“ der EU mit schwindender Bevölkerung geworden. Ihm scheint aber nicht nur die wirtschaftliche Lage aussichtslos. Er kritisiert die lettische Politik insgesamt als „katastrophal“. Innenpolitisch habe sie den Spalt zwischen Letten und Russen in den letzten 30 Jahren vergrößert. Er erinnert an den Nichtbürger-Status für nach der sowjetischen Okkupation immigrierte Russen, an die Abschaffung des Russischen an staatlichen Schulen, mittlerweile nicht nur als Unterrichtssprache, sondern sogar als Lehrfach (LW: hier), auf den Druck auf russische Staatsbürger in Lettland, deren weiterer Aufenthalt davon abhängt, dass sie einen Lettisch-Test bestehen (LW: hier).

Außerdem beklagt Sklenniks den kulturellen Riss innerhalb der lettischen Gesellschaft und macht dafür vereinfachendes Schwarz-Weiß-Denken verantwortlich. Der Zusammenhalt werde negativ durch eine antirussische Stimmung erzeugt. Aus Russen wolle man Letten machen. Der Abriss sowjetischer Denkmäler stellt für ihn eine Geschichtsklitterung dar. Darüber zeigt er sich persönlich verärgert, weil ein Verwandter von ihm in Reihen der Roten Armee gegen Nazi-Deutschland gefallen sei. Mittlerweile würden Denkmäler für alle russischen und lettischen Intellektuellen infrage gestellt, die als Kommunisten gelten. Sklenniks Perspektive hat selbst ihre Beschränkungen. Russland werde stets nur als Aggressor dargestellt. Doch dies basiert auf Erfahrungen, die Letten mit den unerwünschten Besatzern aus dem riesengroßen Nachbarland gemacht haben. Von der Zeit der Tscheka-Verfolgungen, Hinrichtungen und Deportationen in Gulag-Lager ist bei ihm nicht die Rede. Solche Erfahrungen sind es aber, an die die transatlantischen Narrative appellieren. Zudem behauptet Sklenniks im Interview mit Lottaz so einiges, das mir bislang unbekannt war: Michael Bakunin sei der erste gewesen, der die Idee von der Unabhängigkeit der baltischen Länder gehabt hätte. Lettische Intellektuelle hätten sie nur übernommen. In Riga, das im 19. Jahrhundert von Deutschbalten beherrscht wurde, hätte man damals in städtischen Parks Schilder mit der Aufschrift „Zutritt für Hunde und Letten verboten“ aufgestellt. Zudem zeigt sich Sklenniks als fragwürdiger Fürsprecher der angeblich „günstigen“ Kernenergie: Litauen sei heutzutage zu 80 Prozent von Stromimporten abhängig. Vor über einem Jahrzehnt hatte die litauische Regierung den eigenen Kernreaktor auf Druck der EU geschlossen. Dass dieser Kernreaktor die gleiche Bauart wie derjenige von Tschernobyl hat und die Litauer sich 2012 in einer Volksabstimmung gegen den Bau eines neuen Reaktors entschieden haben, ist ihm offenbar nicht bekannt oder er verschweigt es.

Gewiss ist Sklenniks Sicht der Dinge selbst perspektivisch, manchmal sogar manipulierend. Doch es stellt sich die Frage, weshalb sie in einem Land, das sich dem Westen zugehörig fühlt und sich angeblich zur Meinungsfreiheit bekennt, derart skandalisiert wird. Sklenniks betreibt mit einem Kollegen eine russischsprachige Webseite, die auf einem litauischen Server gespeichert wird. Sie soll des öfteren blockiert sein. Das ist kein Wunder, denn nach baltischem Verständnis scheint schon die russische Sprache an sich ein Sicherheitsproblem darzustellen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Translate »