Der US-Senator Joseph McCarthy blies in den 50er Jahren zur Kommunistenjagd. Viele Künstler und Wissenschaftler wie Arthur Miller und Robert Oppenheimer oder auch Exilanten wie Thomas Mann und Bert Brecht mussten sich vor einem „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ rechtfertigen. Eldar Mamedov ist ein Diplomat, der für die lettische Regierung und für die sozialdemokratische Fraktion des EU-Parlaments tätig war. Nun beobachtet er eine ähnliche öffentliche Treibjagd im heutigen Europa. Wer dem NATO-Stratcom-Narrativ widerspricht, den Sieg der Ukraine für unrealistisch und eine Eskalation des Krieges für gefährlich hält, gilt schnell als „Putinist“ und wird ausgegrenzt. In der US-amerikanischen Zeitschrift Responsible Statecraft erläuterte Mamedov die Folgen einer solch beschränkten Sichtweise, die schlecht zum Image von Gesellschaften passt, die sich für „freiheitlich“ und „demokratisch“ halten (responsiblestatecraft.org): Der Versuch, der Ukraine mit Waffen zu „helfen“, bewirkte Kriegsverlängerung, mehr Tote, mehr Zerstörung; die verleumdeten Kritiker haben recht behalten.
Mamedov hat als Diplomat in Washington gearbeitet. Dort scheint die öffentliche Debatte noch pluralistisch geführt zu werden. Neben den Bellizisten finden Kritiker der westlichen Kriegspolitik durchaus Gehör; dazu zählt er das Cato Institute, die Zeitschrift The Nation und Wissenschaftler wie Stephen Walt, John Mearsheimer oder Jeffrey Sachs. Ihre Gegner sind die Neokonservativen, die mit militärischen Mitteln die US-Vorherrschaft sichern wollen. Sie verklären den Krieg in der Ukraine zum Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus, weshalb die Ukraine gewinnen und Russland verlieren muss. Think Tanks wie das Atlantic Council propagieren diese Sichtweise, die in Europa mehr Anklang findet als im eigenen Land. Diese Sicht kennt nur eine plakative Schwarz-Weiß-Malerei: Der ukrainische Sieg und die russische Niederlage werden in der europäischen Öffentlichkeit „in maximalistischen und zunehmend unerreichbaren Begriffen definiert“. Alternative Perspektiven, die ein nachdenklicheres und differenzierteres Bild ergeben, werden ausgeblendet. Deshalb findet eine existenzielle Debatte über Krieg und Frieden in vielen Ländern Europas nicht statt.
Mamedov kennt einige Wissenschaftler, die bis heute von der Öffentlichkeit geschmäht werden, obwohl sie mit ihren Warnungen recht behalten haben. Frida Stranne ist eine schwedische Expertin für internationale Beziehungen. Sie kritisierte, dass in ihrem Land keine öffentliche Debatte zum NATO-Beitritt stattfand. Sie fragte sich, weshalb sich Schweden bedroht sehen, wenn Russland die Ukraine angreift. Sie erinnerte daran, dass westliche Staaten mit dem Irakkrieg einen Präzedenzfall für völkerrechtswidrige Angriffskriege geschaffen haben. An diese von den USA mit Fake News herbeigeführte Invasion haben sich die baltischen Staaten beteiligt. Der Einmarsch der russischen Armee wiederholte dieses Verbrechen. Sie warnt davor, dass die Absage an Verhandlungen die Menschheit gefährlich nahe an den Dritten Weltkrieg heranführt. Während man in den USA solche Ansichten problemlos vertreten könne, werde Stranne ausgegrenzt und müsse sich in den Leitmedien als „USA-Hasserin“ und „Putinistin“ diffamieren lassen.
In Deutschland findet Mamedov „die Geschwindigkeit und Radikalität“ besonders bemerkenswert, mit denen es den „Falken in Thinktanks, Medien und politischen Parteien“ gelungen sei, die Debatte in einem Land „neu zu definieren“, das zuvor für seine Ostpolitik,“eine Politik des pragmatischen Umgangs mit der Sowjetunion und später mit Russland“ bekannt gewesen sei. Mamedov sprach mit Johannes Varwick, der es wagte, den bundesdeutschen Falken zu widersprechen. Der Professor für Internationale Beziehungen der Universität Halle-Wittenberg initiierte im Dezember 2021 mit Militärangehörigen, Wissenschaftlern und Diplomaten einen Appell, um den Krieg doch noch zu verhindern. Die Unterzeichner befürworteten einen neutralen Status für die Ukraine und forderten Verhandlungen. Zudem waren sie der Ansicht, dass der russische Angriff wohl doch nicht gänzlich „unprovoziert“ erfolgen könne und verwiesen in diesem Zusammenhang auf die NATO-Osterweiterung. Danach galt Varwick als Diener russischer Interessen; Parteien und Ministerien brachen die Kontakte zu ihm ab. Selbst im militärisch neutralen Österreich sind Experten für internationale Beziehungen, die sich dem Mainstream widersetzen, vor Anfeindungen nicht gefeit. Russlandkenner Gerhard Mangott vertritt die Auffassung, dass für die desaströse Lage am Dnjepr seit 2014 neben Russland auch die Ukraine und der Westen Verantwortung tragen. Dies habe „prompt zur Ex-Kommunikation durch die deutschsprachige wissenschaftliche Gemeinschaft“ geführt. Diese habe sich dem politischen Aktivismus zugekehrt und sei Kriegspartei geworden.
Im April 2022 waren Ukraine und Russland einem Waffenstillstand nahe, der Varwicks Vorstellungen entsprach. Keine NATO-Mitgliedschaft, spätere Verhandlungen über besetzte Gebiete und militärische Sicherheitsgarantien. Doch dann flog der britische Premier Boris Johnson nach Kiew und ließ die Verhandlungen abbrechen. Mamedov entlarvt an diesem fragwürdigen Politiker die ganze Heuchelei des Westens: Johnson habe den russisch-ukrainischen Krieg selbst als Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland aufgefasst. Die Ukrainer waren und sind die Opfer. Stranne hatte diesen Konflikt schon zuvor als Stellvertreterkrieg beschrieben. Sie galt dann als Propagandistin „russischer Narrative“. Mamedov sieht darin eine „tragische Ironie“, dass diese ausgegrenzten Stimmen meistens richtig lagen.
Mamedov hält die Stimmung in Europa für „alarmierend“. Eine Allianz aus Regierungsmitgliedern, Parlamentariern und Journalisten hält eisern am Kriegskurs fest. Seine Landsleute trugen allerdings ihr Scherflein zum neuen Militarismus bei. Erinnert sei an den lettischen Verteidigungsminister Artis Pabriks, der wenige Wochen vor Kriegsausbruch den Deutschen ihre „pazifistische Nachkriegsphilosophie“ vorwarf (lcm.lv) und mit dem Bruch der EU drohte, falls Deutschland sich nicht an Waffenlieferungen beteiligt. Als damals die drei baltischen Ministerpräsidenten Olaf Scholz in Berlin besuchten, lehnten sie Verhandlungen ausdrücklich ab. Putin hatte gefordert, die NATO-Osterweiterung rückgängig zu machen; das stand für die Balten aber nicht zur Debatte.
Derzeit ist in der europäischen Öffentlichkeit noch kein Umdenken erkennbar. Der baldige Machtantritt Donald Trumps scheint eher ein letztes Aufbäumen der Bellizisten zu bewirken. Schon vor Monaten forderte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius von seinen Landsleuten, nun „kriegstüchtig“ zu werden. Jüngst meinte CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz: „Frieden gibt`s auf jeden Friedhof. Freiheit gibt es nur in offenen, demokratischen, liberalen Gesellschaften“ (youtube.de). Auch NATO-Generalsekretär Mark Rutte stimmt ins Kriegsgeheul ein: In den NATO-Staaten müsse man „Kriegsmentalität“ zeigen und bei den Militärausgaben den „Turbo“ einlegen. Das alles klingt wie Pfeifen im Walde vor der Ernennung Donald Trumps zum US-Präsidenten. Doch die veröffentlichte Meinung weicht von der Meinung der Bevölkerung ab. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Europäer Verhandlungen fordert, um den Krieg zu beenden. Letztlich muss ein Modus Vivendi mit Russland wieder hergestellt werden. Mamedov fodert, die ausgegrenzten Experten anzuhören, um eine längst überfällige Debatte über Krieg und Frieden anzustoßen.