Fr. Nov 22nd, 2024

Am 17.7.1944, also kurz vor dem Hitler-Attentat, überreichte Siegfried von Vegesack seinem militärischen Vorgesetzten, dem Chef des Wirtsschaftsstabes Ost, General Schubert, eine Denkschrift. Dieser hatte ihm befohlen: „Sie sollen nichts beschönigen, unbekümmert Kritik üben. Ich wünsche keine Propaganda, – nur auf die Wahrheit kommt es mir an!“ Der Schriftsteller deutschbaltisch-lettischer Herkunft, der schon seit Jahrzehnten in Bayern lebte, war eigentlich kriegsuntauglich. Er hatte sich in seiner Studentenzeit bei einer Burschen-Mensur in Dorpat das Auge schwer verletzt. Dennoch meldete er sich bei der Wehrmacht nach ihrem Einmarsch in die Sowjetunion als Kriegsfreiwilliger. Er half den Deutschen, die nun besetztes Territorium bewirtschafteten, als Übersetzer. Als Rigaer Gymnasiast musste er einst die russische Sprache erlernen. Wenn Vegesacks autobiographische Angaben stimmen, hat er durchaus Mut bewiesen: Die Attentäter des 20.7.44 planten, seine Schrift „Behandlung der Bevölkerung in den besetzten Ostgebieten“ nach erfolgreicher Machtübernahme zu veröffentlichen. Als das Attentat scheiterte, hätten die Nazis den Autor wahrscheinlich ebenfalls hingerichtet – wenn sie von seinem Text und seinen Kontakten zum Widerstand gewusst hätten. Der Publizist und Literat, der im Dritten Reich mit seinem dreiteiligen Roman „Die Baltische Tragödie“ bekannt wurde, übt in der letzten Kriegsphase heftige Kritik an den Nazi-„Goldfasanen“ und ihrer kolonialistischen Ostpolitik. Aber ein Bekenntnis demokratischer Gesinnung sind diese Texte keineswegs, weder diese Denkschrift noch seine literarisch ambitionierten Berichte über das Leben in den besetzten Gebieten. Diese hatte er zuvor ebenfalls auf militärischem Befehl geschrieben. Die ersten Texte seien „nach langen Widerständen und endlosen Kämpfen mit der Zensur unter dem Titel `Soldaten hinterm Pflug` für unsere Dienststellen gedruckt worden.“1 Im Jahr 1965, als solche Literatur noch manches uneinsichtige Landserherz zu erfreuen wusste, veröffentlichte Vegesack diese Texte erneut, nun unzensiert. Das Buch hat den Titel „Als Dolmetscher im Osten, Ein Erlebnisbericht aus den Jahren 1942-43“ (der aber auch die Denkschrift von 1944 enthält). Es ist ein aufschlussreiches Buch, das demonstriert, wieso ein nationalkonservativ Gesinnter sich so eng mit den Nazis verbünden konnte. Wer den Erlebnisbericht liest, wird viele Parallelen zur nationalsozialistischen Weltanschauung entdecken. Erst spät ahnt der Abkömmling aus adeligem Hause halbwegs, dass die Nazis die Slawen anders als ein deutschbaltischer Baron betrachteten: Die Ostvölker waren weniger zu führende Diener und Knechte als lebensunwerte Untermenschen, die bei Bedarf auszurotten waren. Lesenswert ist das Buch aber auch aus aktueller Sicht: Manche Vegesack-Kommentare zu Deutschen, Russen und Ukrainern erweisen sich als verblüffend aktuell. So stellt sich die Frage, in wie weit noch heute stereotype Abwertungen des Ostens in der deutschen öffentlichen Meinung nachwirken.

1. Vegesack – ein antibolschewistischer Antifaschist?

Biograph Franz Baumer verklärt Vegesack zum linksliberalen Demokraten. Er zitiert dessen Verse aus den zwanziger Jahren, die „an den satirischen Geist eines Tucholsky erinnern“2. Der Beschluss des waffenuntauglichen Literaten, sich dennoch für die Wehrmacht zur Verfügung zu stellen, erklärt sich Baumer so:

Bei seinem Widerwillen gegen den Nationalsozialismus eine etwas schwer verständliche Entscheidung. Er aber sieht einen großen Unterschied zwischen Wehrmacht und Parteiführung und glaubt, seine Kenntnisse einer guten Sache zur Verfügung zu stellen: der Befreiung Rußlands vom Bolschewismus. Als Nachfahre jenes Generalleutnants Balthasar, des Trabanten Karl XII., der schon vor fast zweieinhalb Jahrhunderten die livländischen Rechte gegen das Zarentum verteidigt hatte, sieht auch Vegesack sich nun aufgerufen, die Ostprovinzen vom Stalinismus zu befreien. So sehr ist er von dieser Möglichkeit fasziniert, daß er diesem Ziel zu Liebe auch das Bündnis mit dem Teufel nicht scheut.“3

So ist Vegesack mit dem Teufel gegen den Teufel im Bunde. Baumer zitiert einige der kritischsten Sätze aus der Denkschrift, lässt ansonsten die Berichte des Dolmetschers außer acht. Eine nähere Beschäftigung mit ihnen passte nicht ins Porträt, das Baumer von seinem Freund Vegesack zeichnet. Bereits die letzten Sätze des Vorworts irritieren heutige Leser. Sie dokumentieren den Stand der deutschen Vergangenheitsbewältigung Mitte der 60er Jahre. Kurt Tucholsky hätte solche gewiss nicht geschrieben, wohlgemerkt, sie handeln vom deutschen Angriffskrieg, der den Zweiten Weltkrieg entfachte:

Es ist leicht, aus der heutigen Perspektive [1965] alles in Grund und Boden zu verdammen, was damals von uns im Osten geschaffen wurde. Wer aber zu einem gerechten Urteil gelangen will, wird auch das Positive berücksichtigen müssen, was die Wehrmacht, – im Gegensatz zur Civilverwaltung, – im Osten geleistet hat. Die ganze Tragik dessen, was sich im Osten abspielte, besteht darin, daß alle unsere Bemühungen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau durch unsere unselige, völlig verfehlte Ostpolitik zum Scheitern verurteilt waren. Die Bevölkerung, die uns als Befreier begrüßt hatte, wurde durch unsere unfähige und korrupte Civilverwaltung dem Bolschewismus wieder in die Arme getrieben.“4

In der Sprache des Autors bedeutet der deutsche Überfall den Versuch eines wirtschaftlichen Wiederaufbaus der durch Bolschewismus ruinierten Gebiete. Von Verbrechen und Verbrechern ist nicht die Rede. Tragik und Scheitern verantwortete die Zivilverwaltung der NS-Karrieristen, der Goldfasane. Es wurden Fehler gemacht. Aber die Soldaten der Wehrmacht verhielten sich makellos und in bester Absicht. Eine solch fragwürdige Geschichtsdeutung war zweifellos populär, als die Generationen der Wehrmacht noch die Bundesrepublik regierten. Eine umstrittene Ausstellung wird erst in den 90er Jahren den Mythos der „sauberen Wehrmacht“ endgültig entzaubern.

2. Der Russe weiß sich nicht selbst zu regieren

Ein grundsätzlich bejahendes Verhältnis zu sozialen Hierarchien ist das spezifische Merkmal politisch „rechter“ Gesinnungen. Auch die historischen Einschätzungen des adeligen Exilbalten Vegesack basieren darauf: Die Menschheit teilt sich in Herrscher und Beherrschte. Und wie in der NS-Weltanschauung teilt sich die Welt in Völker, die führen und Völker, die geführt werden müssen. Was für Nazis ein berechtigter Gewaltakt war, die Unterwerfung der Schwächeren als sozialdarwinistische Notwendigkeit, gestaltet sich im Geiste Vegesacks als Akt der Humanität im Sinne einer freiwilligen, einsichtigen Unterordnung. Der Russe kann sich nicht selbst regieren, er braucht die führende (zuweilen ausrutschende) Hand seines deutschen Herrn. Die russische Geschichte belegt das Verlangen des Ostens, vom Westen regiert zu werden. Vegesack zitiert aus der altslawischen Nestor-Chronik. Der Russe dürstet geradezu nach germanischer Herrschaft:

Unser Land ist groß und fruchtbar, aber es ist keine Ordnung darin, – darum kommt und herrscht!“5

Der germanische Herrscher befiehlt in bester Absicht. Er will die slawischen Völker vor barbarischen Einflüssen aus Asien schützen, es ist also ein patriarchalisches Verhältnis: Das Herrenvolk beschützt seine Knechtvölker wie der Vater die unmündigen Kinder:

Und immer ist dieser ungeheure Raum, den der Asiatische Kontinent in den Europäischen hineinstößt, das Aufmarschgebiet aller der wilden Horden gewesen, die seit anderthalb Tausend Jahren gegen Europa angerannt sind: der Hunnen, Awaren, Mongolen und Bolschewiken. Wohin gehört Rußland: zu Asien, – oder zu Europa?“6

Eine Frage, die für manchen Europäer noch heute offen scheint. Man beachte die Zuordnung der Bolschewiken zu den asiatischen Horden. Vegesack zeichnet nicht schwarz-weiß. Sein historischer Abriss enthält Differenzierungen. Aus der Kiewer Rus entwickelte sich sowohl die russische wie die ukrainische Geschichte. Das ukrainische Volk hat die bessere, weil sie ganz sauber vom Westen in Gang gesetzt wurde, die russische hingegen ist mongolisch verdorben, es wird leicht rassistisch:

So müssen wir zwei völlig verschiedene russische Staatengründungen unterscheiden: den Ukrainischen von Kijew, den von Normannen ins Leben gerufen wurde, und den Großrussischen von Moskau, der nicht nur seine ganzen stattlichen Einrichtungen und Herrschaftsmethoden, sondern auch viel Blutzumischung von den Mongolen erhielt.“

Vegesack bereist sowohl ukrainische als auch russische Gebiete, die von Deutschen besetzt sind. Im sechsten Kapitel „Gebärende Erde“ ist der Grenzübertritt architektonisch markiert: Die

elenden, verwahrlosten Lehmhütten und Bretterbudchen [Russlands] mit den durchlöcherten und veruffelten Strohdächern haben sich in schmucke weißgetünchte Häuschen [der Ukraine] verwandelt.“7

Die ganze Landschaft ist bei einer rein westlichen Staatsgründung fruchtbarer, das Wetter besser:

Kaum sind wir am Dnjepr, klärt sich der Himmel völlig auf. Die Wolken bleiben hinter uns zurück und versinken immer tiefer am Horizont. Jetzt bricht sogar die Sonne durch und überschüttet das unter uns vorbeiziehende Land mit rötlichen Strahlengarben. Mit einem Schlag hat sich die Landschaft verändert. Die öde eintönige Wildnis der endlosen Sümpfe und Wälder macht schwarzen und grünen Ackerflächen Platz, kleine saubere Gehöfte mit weißgekalkten Häusern und gelben Strohdächern leuchten auf, hier und dort breiten sich sogar Dörfer aus, und man kann Menschen, Rinder und Fuhrwerke erkennen. Auf einem Acker wird gepflügt. Die schwarzen Furchen glänzen fett in der Sonne. Das ist der `Tschrnosjom`, die berühmte schwarze Erde, denke ich, – ja, das ist die Ukraine.“8

Doch Vegesack skizziert nicht durchgehend Bilder vom braven Ukrainer und mongolisch verdorbenem Russen. Wie die zu Beherrschenden einzuschätzen sind, hängt von vielen Faktoren ab: Besteht Einsicht, beherrscht werden zu müssen? Oder spuken panslawistische oder gar bolschewistische Ideen im Kopf herum? Arbeitet der Untertan noch missmutig in einer Kolchose oder ist er bereits wieder – dank deutscher Hilfe – glücklicher Besitzer seiner Scholle? Beteiligen sich die Slawen am Wiederaufbauwerk unter deutscher Führung? Oder begehen sie Verrat, laufen bei erster Gelegenheit zu den Partisanen über? Verrat und Undankbarkeit eines Dienervolks kannte der Baronensohn ja noch aus seiner lettischen Heimat. Solche und ähnliche Fragen bestimmen Vegesacks Verhältnis zu den Besetzten.

3. „Und hinter der Feldküche baumelte eine Hängematte lustig in der Luft.“9 – Vom Edelmut des deutschen Landsers und seiner Vorgesetzten

Vegesacks Reisebericht liest sich wie ein Abenteuerroman. Die Helden sind die deutschen Landser:

Und da muß ich gleich etwas über diese und alle Landser sagen, denen ich auf meinen vielen Fahrten, – sei es in Güterwaggons oder Lkw`s, – begegnet bin: Nirgends habe ich bessere Kameraden getroffen als unter diesen einfachen Männern. Immer machten sie mir Platz, halfen mir, wo sie konnten, trugen meinen Reisesack, füllten, wenn wir irgendwo rasteten, mein Kochgeschirr, und teilten mit mir ihre letzten Zigaretten.“10

Edelmütig erweist sich der Landser auch gegenüber der Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten, die slawischen Schutzbefohlenen bedürfen seiner ordnenden Hand:

Aber auch unsere braven Landser muß ich bewundern: mit welcher unerschütterlichen Ruhe sie sich in diesem Durcheinander zurecht finden und für ihre Schutzbefohlenen sorgen, daß jeder zu seiner warmen Suppe kommt. Auch Stroh schaffen sie herbei, damit sich die Leute auf der langen Reise ausstrecken können. Der Landser denkt an alles, ordnet an, sieht nach dem rechten. Und wie Kinder folgen sie seinen Anweisungen, – hier und dort knüpfen sich schon zartere Bande an: man versteht sich auch ohne viel Worte.“11

Was der Dolmetscher in lauschiger Landser-Nacht erlebt, gleicht einem Honeymoon:

Nie werde ich diese Sommernacht vergessen, die ich vom Rattern und Stuckern der Räder in Schlaf gewiegt unter dem von ungeheuren Sternen übersäten ukrainischen Himmel verbrachte. Von irgend einem Wagen vor uns drangen die Klänge einer Ziehharmonika herüber. Dann und wann wurde auch ein Lied angestimmt, rauh und doch gefühlvoll, wie nur Landser es in der Fremde singen.“12

Im Osten wird der einfache Soldat Agrarherr über einheimische Knechte. Vegesack steht diesen sogenannten „La-Männern“ als Übersetzer zur Verfügung.

Die meisten sind Bauernsöhne, kommen von kleinen Betrieben und sehen sich hier vor Aufgaben gestellt, von denen man sich bei uns im Altreich überhaupt keine Vorstellung machen kann. Männer, die daheim ein paar ha bestellen, müssen hier Zehntausende bewältigen. Und das alles ohne Sprachkenntnisse, aus dem Stegreif, dem eigenen Instinkt und dem gesunden Menschenverstand überlassen. Hier im weiten Osten kann nichts auf einen Nenner gebracht werden: was hier richtig ist, ist woanders verkehrt. Immer wieder überraschte es mich, wie gut diese deutschen Bauern es verstanden, mit den Russen umzugehen. Der Russe braucht einen Herrn, für den er das schwer zu übersetzende Wort `Barin` hat, – einen Herrn, der ihn nicht nur straft, sondern auch belohnt und für ihn sorgt. Ein junger Russe mit offenem Blick, an dem nichts Falsches und Unterwürfiges war, versicherte mir einmal unter vier Augen von einem La-Mann: `Er ist nicht nur mein Herr. Er ist auch mein Vater!`“13

Das nationalkonservative Herrschaftsverständnis weicht also deutlich vom nationalsozialistischen ab. Recht spät wird Vegesack erkennen, dass die Nazis die Beherrschten nicht als Schutzbefohlene, sondern als auszuplündernde und im Zweifelsfall zu vernichtende Untermenschen klassifizieren. Vegesack gibt den deutschen La-Männern pädagogische Ratschläge:

Einmal war ich allerdings unfreiwilliger Zeuge, wie ein La-Mann im Jähzorn einer russischen Agronomin, die irgend etwas falsch gemacht hatte, brutal ins Gesicht schlug. Es war eine der entsetzlichsten Scenen, die ich als Dolmetscher erlebte, und die sich mir unauslöschlich im Gedächtnis eingeprägt hat: ein Mann, der eine Frau schlägt! Jede Art von Züchtigung ist beim Russen verpönt. Selbst im russischen Gymnasium habe ich es nie erlebt, daß ein Schüler vom Lehrer geprügelt wurde, – eine Prügelstrafe gab es, – ganz im Gegensatz zu Deutschland, in Rußland nicht. Das Wichtigste im Umgang mit den Russen ist: Gerechtigkeit. Und nie darf man etwas versprechen, was man später nicht halten kann. Dann hat man jedes Vertrauen eingebüßt, dann wird einem nichts mehr geglaubt. Das ist oft schwer, besonders hier, im Kahlfraßgebiet, wo die Not und das Elend der Leute groß ist, und man ihnen nicht helfen kann und sie immer vertrösten muß.“14

Das Stabsbüro der deutschen Kreislandwirte von Ponyri,

einer trostlosen Ortschaft mit elenden grauen Bretterhäuschen“15,

gleicht einem Sozialamt:

Und alle wollen was haben.“

Die Deutschen sorgen sogar für psychologische Betreuung:

Die meisten von ihnen wollen [dem deutschen Stab] ihre ganze Lebensgeschichte erzählen.“16

Deutscher Behördenfleiß sorgt für soziale Wohltaten:

Und hier bewirkt er tatsächlich Wunder: unser Stempel gibt den Ärmsten ein paar Kartoffeln, ein Stück Brot, etwas Korn.“17

Nicht nur der einfache Soldat gibt für die Schutzbefohlenen sein Bestes, auch der Adelige widmet sich voll und ganz dem Allgemeinwohl:

Den ganzen Tag drängen sich bärtige Bauern in langen umgürteten Hemden, alte Weiber und junge Mütter mit Säuglingen auf den Armen hinter dem Stacheldraht. Jede hat eine Bitte, und alle kommen zum ‚Baron‘, wie sie in alten Zeiten zum Fürsten gingen. Und dieser Baron versteht sie, spricht selbst russisch, ist also ein richtiger `Barin`, zu dem man Vertrauen haben kann. Auch sonst merkt man überall, wohin wir kommen, daß Baron Maydell die Herzen der Bauern gewonnen hat: alles grüßt schon von weitem, entblößt den Kopf und steht dann ehrerbietig, doch niemals unterwürfig da, in dieser freien, natürlichen Haltung, die für den russischen Bauer so charakteristisch ist. Er hört, was der Herr ihm sagt, und gibt ohne Umschweife offene Antwort.“18

4. Der Deutsche bringt Russen und Ukrainern das Arbeiten bei

Deshalb ist der Straßenbau eine der wichtigsten Aufgaben, die wir im Osten zu bewältigen haben. Und was wird da geschafft! Überall sind Arbeiterkolonnen am Werk, wird Schotter, Schlacke und der Schutt zerstörter Häuser auf Last- und Panjewagen herbeigeschafft, wird unermüdlich geschaufelt, gehackt und gestampft, rollen Walzen bedächtig mit unerbittlicher Wucht über den Schotter…“19

Der Russe kommt ohne deutsche Mobilisierung nicht zurecht. Schon der Zustand seiner Infrastruktur belegt es. Er hat sich mit seinen schlechten Straßen abgefunden.

Deutsches Organisationstalent, Ingenieursgenie und Schaffenskraft machen dem Russen Beine. Dolmetscher Vegesack befiehlt einem Starost, einem ukrainischen Dorfvorsteher, der durch bolschewistische Planwirtschaft völlig verdorben ist. Wenn ein deutscher Herr mit Gewalt droht, dann nur zum Besten der ukrainischen Zöglinge:

Der Starost des Dorfes, ein vertrocknetes Männchen mit langem, dürren Bart, starrte mich fassungslos an, als ich ihm erklärte, daß morgen das ganze Dorf ackern müsse. So ginge das nicht, meinte er kopfschüttelnd und strich sich bedächtig den schütteren Bart: zuerst müsse der Agronom einen Plan ausarbeiten, welche Äcker zu bestellen wären, dann müsse ein `Akt` aufgestellt werden… `Was für ein Akt?` unterbreche ich ihn ungeduldig. `Ein Akt`, wiederholt er unbeirrt und hebt feierlich den knöchernen Zeigefinger: `Ein Akt, wo alles genau aufgeschrieben wird, und dann muß dieser Akt…` `Zum Teufel mit deinem Akt! Schämst du dich nicht: wir geben euch unsere Pferde, damit ihr nicht verhungert, – und ihr wollt nicht arbeiten! Wenn morgen früh, bei Sonnenaufgang nicht alle Bauern mit ihren Pflügen und Eggen bei der Arbeit sind, dann werden w i r einen Akt aufstellen: und du hängst an diesem Baum! Hast du mich verstanden?`“20

Obwohl Vegesack seine landwirtschaftliche Ahnungslosigkeit eingesteht, wird er später sogar selbst eine besetzte Kolchose wochenlang kommandieren. Selbst als Laie ist ein deutscher Befehlshaber gut genug, dem Slawen zu zeigen, wie er sein Brot erwirtschaftet. Hier in Ponyri lehrt eine deutsche Soldatentruppe den staunenden Ukrainern am nächsten Tag, was Arbeit ist:

Das ganze Dorf und das ganze Bataillon mit seinen Pferden war auf den Beinen. Der Leutnant, selbst ein Landwirt, ordnete alles an und verteilte die Pferde an die verschiedenen Kolonnen. Der Bayer, Abteilung `Erzeugung`, griff nach einem Pflug und ging an der Spitze. Das steckte den Leutnant an, auch er packte zu, und nun war kein Halten: alle Soldaten stürzten sich auf die Pflüge und Eggen, stießen die verblüfften Bauern zur Seite, und wer nichts erwischen konnte, führte wenigstens einen Gaul. Das ganze Bataillon marschierte hinterm Pflug, – ein Bild, das ich nicht vergessen werde! Leider dauerte die Herrlichkeit nicht lange. Schon nach ein paar Tagen mußte der Leutnant abrücken. Aber ein hübsches Stück ist doch bestellt worden, und was noch wichtiger ist: das Dorf ist durch das Beispiel der Soldaten wie aus einem tiefen Schlaf aufgewacht. Jetzt spannen sich die Bauern, die kein Pferd haben, mit vereinten Kräften selbst vor den Pflug, und wer zu schwach dazu ist, arbeitet mit der Hacke. Plötzlich ist kein Agronom, kein Plan und kein Akt nötig. Und ihr Eifer wird noch größer, als ich ihnen Hirse zur Aussaat verspreche.“21

Schon damals verstand sich die deutsche Gesellschaft als unschlagbare Arbeitsgesellschaft. Ein Großdeutscher, diesmal ein Kärntner, der das ukrainisch fruchtbare Land liebt, aber dessen Bewohner verachtet, in deren „Drecksbuden“ hausen und leiden muss, erklärt sich den ukrainischen Hunger folgendermaßen:

Man sollte diesen Städtern, die das Land ausplündern, alles abnehmen und dieses ewige Wandern verbieten! Dann werden sie schon arbeiten! Die Erde liegt brach, und die Menschen gehen spazieren! Und was ist das für eine Erde: alles wächst fast von selbst! Sogar die Stöcke, die im Winter die Wege zeigen, schlagen Wurzeln und fangen an zu wachsen! Wenn ich denke, wie wir uns zu Hause schinden müssen, um nur etwas aus unserem armen Steinboden herauszuholen! Und hier auf dieser fetten Erde verhungern sie lieber, als nur einen Finger zu rühren!“22

Ukrainischer Hunger als Folge arbeitsscheuer Flaneure – diese engstirnige Sicht wird von Vegesacks Bericht nicht gestützt. Obwohl er sich vom Kärntner nicht deutlich distanziert, schildert er, dass Benzin- und Pferdemangel den Bauern zu schaffen machen. Er erwähnt sogar das Elend des ukrainischen Hungers im sogenannten „Kahlfraßgebiet“ hinter der Front:

Das ist oft schwer, besonders hier, im Kahlfraßgebiet, wo die Not und das Elend der Leute groß ist, und man ihnen nicht helfen kann und sie immer vertrösten muß. Auch die stereotype Versicherung: `Wer arbeitet, wird nicht hungern` kommt einem angesichts dieser fast zum Skelett abgemagerten Gestalten, die sich in Lumpen vor unserem Hause drängen, nicht ganz unangebracht vor. Wie sollen diese verschrumpelten uralten Weiblein, diese bärtigen Zittergreise, diese ausgemergelten Mütter mit ihren schon vom Tode gezeichneten wächsernen Säuglingen auf den Armen, – wie und wo sollen die arbeiten? Es wird zwar an Bedürftige etwas Getreide ausgeteilt, aber der Vorrat ist nicht groß und wird kaum bis zur nächsten Ernte reichen. Und was dann? Und wie soll etwas geerntet werden, wenn fast nichts bestellt ist. Es ist zum Verzweifeln, aber man darf nicht verzweifeln.“23

Aber das Elend ist für den Autor unvermeidlich und notwendig. Schließlich liegt es im gemeinsamen Interesse von Besatzern und Besetzten, vorrangig deutsche Soldaten mit Lebensmitteln zu versorgen. Nur so kann der antibolschewistische Befreiungskampf gelingen. Dass der deutsche Raubzug im viel größeren Ausmaß vonstatten ging, hat vor wenigen Jahren der Historiker Götz Aly belegt. In besetzten Gebieten herrschte Hunger, weil die Nahrungsmittel ins Reich geliefert wurden. Doch von solchen Transporten weiß Vegesack an dieser Stelle noch nichts zu berichten. Wenn der Deutsche Gewalt anwendet, dann nur aus erzieherischen Gründen. In einem Partisanengebiet steckten die Feinde ein Sägewerk in Brand. Der deutsche „Sonderführer“ muss mit vorgehaltener Pistole die Einheimischen zum Löschen zwingen. Diese sind ihm dafür dankbar:

Es brannte so hell, daß einem die Augen weh taten. Und wenn der Kommandant uns nicht zum Löschen gezwungen hätte, wäre sicher alles abgebrannt, das viele Holz und auch unsere Häuser. Aber jetzt haben wir keine Arbeit, und Brot gibt es auch nicht. Der Herr Kommandant wollte uns Mehl bringen, aber er ist nicht wiedergekommen. Nun müssen wir verhungern, – wir und die Kinder…“24

Ein großes Wehklagen über den verschwundenen Sonderführer erhebt sich, ohne deutschen Sonderführer ist der Russe hilflos. Der Befehlshaber erweist sich als kühner ritterlicher Recke. Für seine Zöglinge wagt er sich durch das Partisanengebiet, um neue Maschinen zu besorgen. Schließlich taucht er wieder auf:

Natürlich gibt es in den Wäldern Banden, das will ich nicht leugnen, und die richten auch allerlei Schaden an, – aber schließlich, es ist ja auch Krieg, und wir sind doch auch Soldaten, wenn auch in dieser komischen grünen Forst-Uniform! Ich bin jedenfalls froh, mal richtig Soldat zu sein und nicht nur Soldat zu spielen! Dann und wann eine Knallerei ist ganz erfrischend!“25

Vegesack zollt Respekt für einen solch vitalistischen Charakter:

Dieser ganze Kerl war erfrischend. Es ging so viel Kraft, Temperament und ein solcher unbändiger Tatendrang von ihm aus, daß wir unwillkürlich von ihm mitgerissen wurden.“

Der Vitalist ist ein Antibürokrat, sein Tun gilt dem Endsieg:

Seine größte Sorge war, dieses Holz zu zerschneiden, weil die Truppe dringend Balken und Bretter für ihre Brücken brauchte. Und nun hatte der Brand alle seine Pläne über den Haufen geworfen. Nicht aber ihn selbst. Ein anderer wäre verzweifelt, hätte einen ausführlichen Bericht verfaßt und im übrigen auf die nötigen Maschinen gewartet. Und dann hätte er wahrscheinlich Jahre lang warten können. Der `Kommandant` schrieb keinen Bericht, der Papierkram war ihm ein Greuel“26

Ein deutscher Ingenieur lobt an einem anderen Ort die Improvisationskunst russischer Arbeiter. Doch es ist ein vergiftetes Lob, das ein niedrigeres Produktivitätsniveau kulturalisiert, also als ethnische Eigenschaft ausweist. Russische Mechaniker begnügen sich mit einem Niveau, das kein Deutscher akzeptieren würde. So erweist sich das vordergründige Lob als herablassende Einschätzung eines als primitiv eingeschätzten Zivilisationszustandes:

`Wir müssen alles nehmen, was wir finden`, erklärte mir der deutsche Ingenieur, der das Werk betreut: `Und man findet schließlich überall etwas. Die Russen sind groß im Zerstören, aber auch sehr geschickt, aus dem Nichts, aus ein paar Drähten und einem Blechstück etwas Brauchbares zusammen zu flicken. Es ist unglaublich, was diese russischen Mechaniker zustande bringen. Bei uns wäre so etwas nicht möglich. Unseren Mechanikern würden sich die Haare sträuben, wenn sie solch` Flickwerk fabrizieren müßten. Aber hier darf man nicht wählerisch sein. Die Truppe braucht warme Socken, Unterhosen, Pullover. Und wenn wir auch nicht erstklassige Ware herstellen können: sie erfüllt ihren Zweck. Und auch die russischen Arbeiter sind zufrieden: sie verdienen sich ihren Lebensunterhalt!`“27

Für den fleißigen Russen sorgt der Deutsche:

Ich besah mir die große Küche, in der für 300 Arbeiter das Mittagessen gekocht wird, den hellen sauberen Speiseraum, in dem in den drei Schichten gegessen wird, – lange Tische und Holzbänke, alles einfach aber ordentlich eingerichtet. `Wir haben seit Monaten nicht so gut gegessen`, erklärte mir ein alter Arbeiter: `Nur das Brot ist etwas knapp!` Der Russe ist ein großer Brotesser. Zu jeder Mahlzeit, auch zur Suppe, nimmt er ein Stück Brot. Wir können ihm nicht mehr geben, als unseren eigenen Soldaten.“28

Trotz des Bemühens, dem Russen Arbeit und Brot zu verschaffen, gelingt es den Besatzern nicht, die gesamte Bevölkerung zu versorgen. Vegesacks Rechtfertigungsstrategie, den deutschen Eroberungszug als gemeinsames Interesse von Besatzern und Besetzten darzustellen, erscheint angesichts dessen, was heutzutage über das Los der Zwangsarbeiter bekannt ist, zynisch. Vegesack beteiligt sich als Dolmetscher an Kriegsverbrechen:

Hier mußte ein anderer Ausweg gefunden werden, sollten nicht Millionen von arbeitswilligen Russen verhungern. Und dieser Ausweg war: der Abtransport der Arbeiter ins Reich. So hart und so schwer für viele die Trennung von ihrer Heimat und ihren Angehörigen gewesen sein mag, hätte man sie einfach dagelassen, wäre ihr Schicksal jedenfalls noch viel schlimmer gewesen. Man muß das Elend und die furchtbare Not dieser brotlos gewordenen Industriearbeiter gesehen haben, diese Karawanen halbverhungeter Menschen, die aus den großen Industriestädten sich in endlosen Strömen auf das kahlgefressene Land ergießen, und ihre letzten Habseligkeiten gegen ein paar Kartoffeln, ein Stück Brot umzutauschen, um eine Vorstellung von dem zu bekommen, was sie im Winter erlebt hätten, wenn sie da geblieben wären. Wäre es humaner gewesen, Millionen verhungern zu lassen, statt sie zur Arbeit zu zwingen? Im allgemeinen ist aber, – jedenfalls im Sommer 1942, – ein solcher Zwang nicht ausgeübt worden. Ich habe mich damals mehrfach bei den Abtransporten als Dolmetscher betätigt, in Kursk und in Poltawa, habe mich mit Hunderten von Männern, Burschen und Frauen unterhalten und sie ausgefragt, und niemand hat sich darüber beklagt, daß man ihn zum Abtransport gezwungen hätte. Im Gegenteil: fast alle erklärten mir, sie gingen gern nach Deutschland, weil sie hier keine Arbeit und keinen Verdienst hätten.“29

5. Der Blick eines Nationalkonservativen auf den Bolschewiken

Um Vegesacks Sicht auf den Bolschewismus zu erkunden, ist das Kapitel „IV. Wachstuchsofa, Einheitsstuhl, Blechschüssel“ aufschlussreich. Die sozialistisch produzierten Güter verstoßen gegen den adeligen und bürgerlichen Geschmack. Einheitliche Produkte, die sich jeder leisten kann, haben einen niedrigen Tauschwert und daher keinen besonderen Wert. Der Besitzästhet benötigt die äußere Besonderheit einer angeeigneten Ware zur individuellen Selbstinszenierung. Dies funktioniert nicht mit hergestellten Gütern, die alle gleich sind und jeder hat:

Natürlich steht da wieder das unvermeidliche schwarze Wachstuchsofa mit den abklappbaren Rollen zu beiden Seiten, so daß man sich darauf ausstrecken kann. Ohne Zweifel ein äußerst praktisches, aber in seiner seelenlosen Zweckmäßigkeit unsagbar widerwärtiges Möbelstück. Wenn sie wenigstens nicht alle ganz gleich wären, wenn wenigstens die steife gleiche Rückenlehne nicht immer genau den gleichen Schnitt, die gleiche Holzleiste hätte! Aber auch nicht um einen Millimeter unterscheidet sich das eine Stück vom anderen. Man glaubt, überall auf dem gleichen Wachstuchsofa zu sitzen: in Kursk, in Poltowa, in Saporoschje, Simferopol oder Pjatigorsk. Selbst kleine Ortschaften, ja sogar Dörfer sind mit diesem Prunkstück des sozialen Aufstieges beglückt worden. Und ich bin fest davon überzeugt, daß dieses allmächtige Wachstuchsofa den ganzen Osten, – vom Weißen bis zum Schwarzen Meer, ja bis zum Stillen Ozean beherrscht. Das elende Wachstuch will Leder vortäuschen, – dieses Sofa will mehr sein, als es ist!“30

Mehr Schein als Sein beobachtet Vegesack auch in der bolschewistischen Architektur. In der folgenden Passage könnte Vegesack die „Parteibonzen“ auch loben, weil sie sich mit „winzigen engen Dreizimmer-Wohnungen“ begnügen. Statt dessen beschimpft er sie wegen ihres Kleinbürgerlebens, das sich hinter verlogener Fassadenpracht abspielt:

Genau so [wie mit dem Wachstuchsofa] ist es mit diesen auf den ersten Blick imposanten, hochragenden und weit ausladenden Bauten der Partei und Behörden, wie man sie überall zu sehen bekommt, – und trittst du dann, noch erschauernd vor solcher Pracht, mit scheuem Herzklopfen in das Gebäude, empfängt dich statt der erwarteten Prunkhalle ein trostloser stinkender Hinterhof. Und du erfährst zu deinem maßlosen Staunen, daß das ganze Prachtgebäude aus winzigen engen Dreizimmer-Wohnungen besteht, in denen allmächtige klassenbewußte Parteibonzen ein höchst spießerhaftes kleinbürgerliches Leben führen. Man muß selbst eine zeitlang in einem solchen Loch gehaust haben, – natürlich jede Wohnung genau wie die andere, – um die ganze Verlogenheit eines solchen Gebäudemonstrums zu erleben: die Prachtfassade vorne mit Säulen und Balkons, und ein paar Schritte dahinter: die elende Rückseite dieser zum Umstürzen schmalen Kulisse! Daß kein Fenster und keine Tür richtig schließt, und das WC meist nur sehr mangelhaft funktioniert, erwähne ich nur nebenbei. Das ist auch nicht so wichtig. Nicht Mangel, nicht Armut, nicht Primitivität stören mich. Gegen eine elende Lehmhütte habe ich nichts einzuwenden. Nein, die Verlogenheit ist es, der Widerspruch zwischen dem, was diese nachgeäfften Wolkenkratzer sein wollen, und was sie wirklich sind: armselige Mißgeburten aus Beton und Gips.“31

Wie hätte Vegesack wohl die architektonischen Fantasien seines obersten Führers beurteilt? Verlogene Prachtfassaden, die den Besucher erschauern lassen sollen, waren keine sozialistische Besonderheit. Dennoch trifft Vegesack in einem beiläufig erwähnten Attribut, nämlich der „seelenlosen Zweckmäßigkeit“, einen wichtigen Mangel der bolschewistischen Ideologie. In einem Gespräch mit einer russischen Botanikerin erweist sich ihr biologistisches Maschinenmenschdenken. Dessen Kern ist eine vulgärere Form des Positivismus. Der Mensch ist demnach vollends determiniert, persönliche Freiheiten, der Wille, Böses oder Gutes zu tun, erscheinen als bloße Selbsttäuschung. Der Mensch ist nun nicht mehr das Werkzeug im Plan Gottes, sondern dasjenige darwinistischer Evolution.

Die Botanikerin, ein intelligentes, sehr belesenes, wie durch eine Retorte gepreßtes Geschöpf, ist von jenem merkwürdig nüchtern-sachlichen, so ganz reizlosen, unweiblichen Wesen, das ich schon manchmal bei solchen studierten jungen Russinnen beobachten konnte. Gerade deswegen war es für mich sehr lehrreich, ihre Ansichten zu hören. Sicher rückte sie nicht ganz mit dem heraus, was sie wirklich meinte, – dazu war sie zu klug. Aber schon das, was sie sagte, genügte mir, ein ziemliches Bild von ihren Anschauungen zu bekommen. Sie meinte, dieser Krieg werde das Ende der alten Welt besiegeln. Alles Weitere werde sich automatisch oder, wie sie sich ausdrückte, `biologisch` von selbst ergeben, – der Mensch sei nur ein Werkzeug in diesem Prozeß, Objekt und nicht Subjekt der Geschichte.“32

Der Krieg verheißt sozialdarwinistische Reinigung von der bürgerlichen Welt, die Bolschewiken hätten ihn selbst begonnen, wenn die Deutschen nicht zuvorgekommen wären:

Auf meinen Einwand, daß der Mensch, auch wenn er bloß ein Werkzeug in der Hand des Schicksals sei, doch im Guten und Bösen wirken könne, erklärte sie unbefangen, daß alle diese Unterscheidungen wie `Gut` und `Böse` einer überlebten bürgerlichen Welt entstammen und im Staat der Zukunft keine Geltung haben würden. Der Krieg, – so meinte sie, – wäre unvermeidlich gewesen, nur sei er für die Bolschewiken etwas zu früh gekommen: man hätte ihn für den Herbst 1941 angesetzt und sei daher mit den Rüstungen nicht fertig geworden. Übrigens haben mir dies auch andere Russen, die ich später in Rostow und Pjatgorsk sprach, einstimmig bestätigt: schon im Januar 1941 hätten bolschewistische Propagandaredner in den verschiedenen Städten die Massen auf den Krieg gegen Deutschland vorbereitet.“

Damit beteiligt sich Vegesack an der deutschen Propaganda, die Sowjets hätten selber einen Angriffskrieg geplant, so dass die Wehrmacht zuvorkommen musste. Er versucht, auf ein „harmloses Thema“ überzuleiten, doch gerade in diesem zeigen sich die gegensätzlichen Auffassungen, die eine bolschewistische Botanikerin und ein nationalkonservativer Literat von der Welt haben:

`Aber darin sind wir uns doch einig`, suche ich unser Gespräch auf ein harmloses Thema umzuleiten: `daß diese Landschaft hier schön ist, – das reinste Paradies! Oder ist auch die Schönheit nur ein überlebter bürgerlicher Begriff, der für Sie keine Geltung hat?` `Natürlich ist dies schön`, meint sie sachlich: `wenn auch viel verlogene bürgerliche Romantik hinter all`dieser Naturschwärmerei steckt! Schauen sie sich doch nur diese abscheulichen Villen und Paläste an,- wie lächerlich und verlogen ist das alles! Wir haben dagegen hier Kinderheime und Erholungsheime für die Arbeiter gebaut, – ist das nicht sehr viel besser und nützlicher? Und was soll hier dieses alberne Museum alter, völlig überflüssiger Bäume aus aller Welt? Wäre es nicht zweckmäßiger gewesen, hier Ölbäume und Feigen anzupflanzen und frostsichere Citro-Früchte zu züchten, wie wir es jetzt tun? Wer die Natur wissenschaftlich betrachtet, schwärmt nicht für sie. Er lernt sie biologisch verstehen. Und dann gibt es kein `Gut`, kein `Nützlich` und `Schädlich`. Der gesunde Baum wächst, der kranke verkümmert, der Starke lebt, der Schwache geht unter. Die Natur ist zweckmäßig, und nur darauf kommt es an, alles was die Entwicklung und den Fortschritt hemmt, zu beseitigen. Erst wenn kein Mensch mehr zu hungern braucht, werden wir uns den Luxus der Schönheit gestatten können!` Das waren ungefähr die Gedankengänge der Botanikerin. Ich konnte sie zwar verstehen, wenn ich an die hungernden Kinder dachte, die um ein Stück Brot bettelten, aber wie platt und banal erschien mir das, was sie von der Natur gesagt hatte. Doch ich erwiderte nichts. Was ich gehört hatte, genügte mir.“33

Diese darwinistische Weltsicht verbannt alles Poetische und Schöne. Nur die Zweckmäßigkeit der Natur ist zu beachten. Daran hat sich der Wissenschaftler zu orientieren. Das Nützliche (Kinderheime) wird gegen das bürgerlich Schöne (abscheuliche Villen) ausgespielt. Wer den Hunger bekämpft, darf sich den „Luxus der Schönheit“ nicht gönnen. Die Ergebnisse eines solchen Nützlichkeitsdenkens ist in zahlreichen sozialistischen Betonvierteln zu betrachten. Sie sind, wie Vegesack es für das Wachstuchsofa festellte, ebenfalls „seelenlos“. Denn für eine Seele ist in diesem Denken kein Platz. Zudem zeigt das Zitat der Botanikerin ein typisches naturalistisches Dilemma: Einerseits wird der Mensch als vollends determiniert, als Objekt der Evolution begriffen. Andererseits beansprucht die Wissenschaftlerin einen elitären Subjektstatus, der sie aus der Masse Mensch hervorhebt. Sie studiert die Natur in der Absicht, trotz des postulierten Determinismus` einzugreifen, um den Vervollkommnungsprozess der Evolution zu beschleunigen. Eine solche positivistische, der Ethik entbundenen Naturauffassung erklärt, wieso auch links gerichtete Regierungen eugenische Menschenzuchtprogramme entwickelten – und das nicht nur in der Sowjetunion. Vegesack verhehlt seine Bewunderung für den naturwissenschaftlichen Eifer an anderer Stelle keineswegs. Er sieht, dass die Bolschewisten den Kindern der Landbevölkerung mit einem naturwissenschaftschaftlichen Studium den sozialen Aufstieg ermöglichen. Er lobt sowjetische Pflanzenzucht, achtet die Industrialisierungsbemühungen. Doch die kollektive Landwirtschaft bleibt der privaten unterlegen. Vegesack beklagt, dass unter den deutschen Besatzern die Reprivatisierung in der Ukraine nicht schnell genug vorankomme. So verspielt man die Sympathien der Bevölkerung. Dort, wo reprivatisierter Acker an kollektiver Landwirtschaft grenzt, bemerkt er den Unterschied:

Es fällt mir auf, daß auf der linken Seite der Straße die Hocken mustergültig geschichtet, mit einem zum Schutz gegen Regen aufgestülpten Kopfbüschel wie Soldaten in Reih und Glied dastehen, während auf der anderen Seite unförmige Getreidehaufen unordentlich durcheinander liegen. `Die Felder links sind aufgeteiltes Bauernland`, erklärt mir Dr. Sch. den Sachverhalt: `Rechts gehören sie noch der Sowchose. Da hat keiner ein Interesse daran, das Korn ordentlich aufzuschichten. Man kann das überall beobachten: der Bauer bestellt sein Land ganz anders, als der Arbeiter auf dem Staatsgut. Besonders dort, wo der Acker schon vermessen ist, und er sich als rechtmäßiger Besitzer fühlt.`“34

Privater Besitz fördert die Eigenverantwortung und Ordnung, Gemeineigentum Desinteressiertheit und Unordnung, lautet die bürgerliche Botschaft. Stalin hatte die Zwangskollektivierung zur Brechung des bäuerlichen Widerstands befohlen. Eine Empfehlung für die klassenlose Gesellschaft war dieser Opfergang gewiss nicht.

6. Kritik mit Scheuklappen: Die NS-Verbrechen als Kolonialismus

Der Vorwurf gegenüber dem NS-Regime, gegenüber dem Osten Kolonialpolitik zu betreiben, ist aus Vegesacks Sicht kein leichter. Immerhin stellt er Deutschland damit auf eine Stufe mit den Konkurrenten Großbritannien und Frankreich. Der Kolonialismus birgt unvorstellbare Verbrechen. Vegesack verstand seine Rolle im Osten nicht als Kolonialherr, eher sah er sich als strenger Entwicklungshelfer, der die Einheimischen zu ihrem Glück zwingen muss. In seinen Berichten zitiert er den Kolonialismus-Vorwurf zunächst als Kritik eines sympathisierenden Russen:

`Ihr Deutschen glaubt, mit dem Bolschewismus allein fertig zu werden. Erst jetzt, wo Ihr merkt, daß Ihr es allein nicht schafft, sollen wir für Euch kämpfen. Aber jetzt ist es etwas spät. Und eines wollen wir in keinem Fall: eine deutsche Kolonie werden! Wenn das Euer Ziel ist, werdet Ihr alle Russen gegen Euch haben!` Leider mußte ich dem Russen in Vielem Recht geben. Wir Deutsche haben wenig Talent, ein fremdes Volk richtig zu behandeln. Auch die uns Wohlgesinnten stoßen Taktlosigkeit, Unverständnis und unnütze Härten vor den Kopf, und meinen, daß man nur mit der Peitsche herrschen kann. Dann kamen wir auf die Civilverwaltung zu sprechen … Aber das ist ein Kapitel, wenn nicht ein ganzes Buch für sich, das einmal geschrieben werden müßte, – ein trauriges Kapitel…“35

Der Russe kritisiert auch die völkerrechtswidrige Verschleppung von Frauen und Mädchen zur Zwangsarbeit ins Reich. Dennoch, zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme der Verbrechen kann sich der Autor nicht durchringen. Die Deutschen verfolgen nach seiner Darstellung keine böse Absicht. Zunächst kommen Fehler einer unfähigen Zivilverwaltung zur Sprache. Über verschleppte Juden und Roma verliert Vegesack kein Wort. Wenn jemand Schuld und Verantwortung trägt, dann die politische Führung, die das hehre Ansinnen ihrer Soldaten missbrauchte. Vegesack zitiert entsprechend zynische Sätze Görings und weiterer NS-Größen zum Umgang mit der slawischen Bevölkerung. So wurde der gutmütige deutsche Soldat getäuscht und missbraucht – das las sich gut, Mitte der 60er Jahre. Erst in seiner Denkschrift vom 17.7.1944 dämmert es ihm, dass es sich um einen vernichtenden Raubzug handelte. Wenige Wochen zuvor war sein Sohn im Krieg gefallen. Nun ahnt der Nationalkonservative allmählich die angestellten Verbrechen. Sie sprachlich klar zu benennen und Schuld einzugestehen, vermag er nicht. Verantwortung und Schuld verlieren sich in taktischen Fehlern einer „negativen Ostpolitik“:

Im Krieg gegen die Sowjet-Union wurden von uns in erster Linie militärische und wirtschaftliche Ziele verfolgt (Vernichtung der bolschewistischen Armee, Ausnutzung der russischen Rohstoffe für die deutsche Kriegswirtschaft), während wir jeder politischen Zielsetzung vorläufig aus dem Wege gingen. Statt die nationalen Kräfte der durch uns vom Bolschewismus befreiten Völker für uns zu aktivieren, ließen wir sie nicht nur ungenutzt, sondern trieben sie durch unsere völlig negative Ostpolitik mit ihren kolonialen Absichten wieder dem Bolschewismus in die Arme. Anstelle der Ausrufung einer autonomen Ukraine und der Aufstellung eines ukrainischen Volksheeres wurde Lemberg dem Generalgouvernement zugeteilt, und Odessa an die Rumänen geschlagen, wurden die deutschfreundlichen ukrainischen Elemente verfolgt und verhaftet. In den baltischen Staaten wurde das bolschewistische System [der Zwangskollektivierung], das in dem einen Jahr der bolschewistischen Besetzung nur auf dem Papier eingeführt worden war, nicht etwa durch einen Federstrich beseitigt, sondern beibehalten, in einer ganzen Reihe von Fällen sogar noch erweitert, ja als juristische Grundlage einer kriegswirtschaftlichen Raubpolitik ausgenutzt.“

7. Warum Vegesacks Schrift noch heute lesenswert ist

Vegesacks Beschreibung und Rechtfertigung der deutschen Militäroffensive steht exemplarisch für das Scheitern des späten nationalkonservativen Widerstands jener, die allzu lange mit den Nazis verbündet blieben. Die ideologische Nähe zur NS-Weltanschauung machte blind für die kriminellen Absichten des Hitler-Regimes, dem Nationalkonservative zur Macht verholfen und zulange gedient hatten. Jene, die wie Vegesack gesinnt waren, fehlten offenbar Vorstellungskraft, Erkenntniswille und Mut, sich die nazistische Bestialität rechtzeitig vor Augen zu halten. Sie dachten in ähnlichen hierarchischen Vorstellungen und verkannten daher die Gefahr, die von der NS-Ideologie ausging. Jene unter den Lersern, die sich selbst als „konservativ“ einschätzen, sei gedankt, diese Interpretation von Vegesacks Dolmetscher-Dasein bis hierhin ertragen zu haben. Es ist keine Frage, dass sich in den Exilkreisen linker Literaten und Intellektueller geradezu symmetrisch eine ähnliche Blindheit gegenüber dem Stalinismus eingestellt hatte.

Der konservative Literaturwissenschaftler Georg Scholdt empfiehlt36, heutzutage die Literatur des politisch Andersdenkenden noch einmal genauer zu lesen, die Zeit der Grabenkämpfe (linker) Exilliteraten und (rechter) innerer Emigranten und ihrer jeweiligen Interpreten ist längst vorbei. Er selbst zitiert dazu einen Autor, der ihm politisch nicht nahesteht: „Küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft,“ formulierte einst Kurt Tucholsky. Dieser Satz ist vieldeutiger, als er auf den erste Blick erscheint. Unter anderem meint er wohl, den Texten anders Gesinnter nicht mit Hass zu begegnen. Verstehen und Begreifen, Voraussetzungen einer jeden Interpretation, sind nicht dasselbe wie Akzeptieren und Befürworten. Zudem empfiehlt Scholdt diesen Satz den revolutionär gesinnten Sozialreformern: Die bessere Welt lässt sich nicht auf Hass begründen, wie das 20. Jahrhundert demonstriert hat.

Vegesacks Beschreibungen über Russen und Ukrainer wirken wie satirisch gesteigerte Stereotypen, die teilweise schon im Mittelalter entstanden, als der Deutsche Orden gegen die russischen „Ungläubigen“ kämpfte, und hallen bis heute in der öffentlichen Meinung nach. Diese Abwertung bewirkt eine Überhöhung des Deutschen und des Westens. Das, was Vegesack drastisch formuliert, ist auf subtilere Weise immer noch wirksam. Man denke etwa an den Stolz des deutschen Exportweltmeisters auf seine vermeintlich konkurrenzlosen Qualitätsprodukte, denen keine noch so hohe Euro-Aufwertung etwas anhaben könne. Umgekehrt sind die meisten Produkte, die in Osteuropa produziert werden, immer noch ein No-Go für Besitzästhetiker, vom Krim-Sekt einmal abgesehen. Vegesacks Erlebnisbericht liest sich wie bittere Satire auf jene „embedded stories“ über scheinbar „saubere Kriegsführung“, die eingebettete Journalisten als große Brunnen- und Schulenbau-Aktion im Namen der Menschenrechte präsentieren. (Insofern ist Vegesack, wenn auch unfreiwillig, vielleicht doch mit Größen wie Kurt Tucholsky oder Karl Kraus gleichzusetzen). Hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs beherrscht der ukrainisch-russische Konflikt die Tagesthemen. Man sollte sich daher der Gefahr, die von Stereotypen ausgehen, bewusst sein.

Udo Bongartz

1Siegfried von Vegesack: Als Dolmetscher im Osten, Ein Erlebnisbericht aus den Jahren 1942-43, Hannover 1965, S.11 – Aus diesem Buch wird im Folgenden zitiert.

2Franz Baumer: Siegfried von Vegesack, Heimat im Grenzenlosen, Eine Lebensbeschreibung, Heilbronn 1974, S. 90

3Baumer, ebd. S. 113

4Vegesack, ebd. S. 13

5ebd. S. 20

6ebd. S. 19

7ebd. S. 80

8ebd. S. 23

9ebd. S. 32

10ebd. S. 26

11ebd. S. 95

12ebd. S. 33

13ebd. S. 42

14ebd. S. 42f.

15ebd. S. 39

16ebd. S. 45

17ebd. S. 46

18ebd. S. S. 213

19ebd. S. 30

20ebd. S. 47f.

21ebd. S. 49

22ebd. S. 38

23ebd. S. 42

24ebd. S. 74

25ebd. S. 77

26ebd. S. 78

27ebd. S. 92

28ebd. S. 92f.

29ebd. S. 93f.

30ebd. S. 58f.

31ebd. S. 59f.

32ebd. S. 132f.

33ebd. S. 134

34ebd. S. 205

35ebd. S. 197

36Günter Scholdt, Deutsche Literatur und „Drittes Reich“, Eine Problemskizze, in Frank-Lothar Kroll, Die totalitäre Erfahrung, Deutsche Literatur und Drittes Reich, Berlin 2003, S. 20

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