„Du bist einer von uns – werde Soldat!“ – Reklame der lettischen Armee in Riga, Foto: Udo Bongartz
Der Wahlsieg des nationalkonservativen US-Politikers Donald Trump versetzt die meistens transatlantisch und liberalkonservativ orientierten Regierungen der EU in Aufregung. Mit einem Sieg der liberalen Konkurrentin Kamala Harris wäre eine weitere Unterstützung der ukrainischen Armee und ein Weiter-so wahrscheinlich gewesen. Das Narrativ, das NATO und westliche Medien verbreiten, die Ukraine müsse ihre militärische Verteidigung bis zum Sieg fortführen, um Europa vor einem russischen Überfall zu bewahren, schloss diplomatische Bemühungen um eine Beendigung des Tötens aus. Trump könnte sich auf internationaler Bühne als eine loose canon erweisen, als unberechenbarer Politiker in positiver wie negativer Hinsicht. Er stellt in Aussicht, einen Sonderbeauftragten in die Ukraine zu schicken, um den Krieg rasch zu beenden. Was davon zu halten ist, bleibt ungewiss. Der US-Republikaner ist kein Friedensengel; 2018 kündigte er den für Europa so wichtigen INF-Vertrag mit Russland, der das Verbot beinhaltete, nukleare Mittelstreckenraketen aufzustellen. Trump hatte auch keine Probleme, mit Saudi Arabien Waffendeals zu vereinbaren. Zudem unterstützt er einseitig die nationalkonservative israelische Regierung im Krieg gegen Palästinenser, statt zwischen beiden Lagern zu vermitteln. (Der US-Journalist Glenn Greenwald befürchtet, dass Trump ein Kabinett aus Kriegstreibern zusammenstellen wird, youtube.de). Dass sich das bisher propagierte Narrativ von der Notwendigkeit eines ukrainischen Siegs nicht halten lässt, deutet ein Artikel von Rihards Plume an, der für Latvijas Radio als Auslandskorrespondent arbeitet (lsm.lv).
Plume beobachtet nach der US-Wahl Pessimismus und Besorgnis bei Politikern und Diplomaten der EU. Trump könnte das Ende des militärischen Beistands für die Ukraine einläuten. Trotz aller westlicher Siegesbeschwörungen erobert die russische Armee von Tag zu Tag mehr Gelände. Die von Polen und Balten angeführte Einheitsfront in der EU scheint zu bröckeln. Sie stellte sich bislang strikt hinter die unrealistischen Ziele Wolodimir Selenskis, alle besetzten Gebiete zurückzuerobern. Länder, die sich bislang mit der Ukraine solidarisch zeigten, wünschen nun Verhandlungen, auch wenn ukrainische Territorien von Russland besetzt bleiben. Plume zitiert den französischen Diplomaten Gerard Araud, der zwischen 2014 und 2019 Botschafter in Washington war. Seiner Ansicht nach sind Forderungen nach Verhandlungen unumgänglich. Dass das nicht öffentlich besprochen wird, verdeutlicht, in welcher Sackgasse sich der NATO-Stratcom-Diskurs inzwischen befindet. Laut Araud scheuen seine Kollegen, Verhandlungen öffentlich zu fordern, um nicht in den Verdacht zu geraten, die russische “Aggression zu unterstützen”. Plume las in der New York Times, dass sogar ukrainische Diplomaten – im Gegensatz zu ihrem Staatspräsidenten – bei Verhandlungen nicht mehr auf die vollständige Rückgabe von Territorien, sondern nur auf Sicherheitsgarantien bestehen.
Auch in der Ukraine bröckelt die Unterstützungsfront. Laut Plume ermittelteten Kiewer Demoskopen, dass immer noch 58 Prozent der Befragten territoriale Zugeständnisse an Russland ablehnen, doch inzwischen sind 32 Prozent zu solchen Kompromissen bereit. In einer anderen Umfrage machen 58 Prozent der Ukrainer ihren Staatspräsidenten Selenski für den Ausgang des Krieges verantwortlich. Zurückgehende Unterstützung zeigt sich auch in der schwindenden Spendenbereitschaft der ukrainischen Bürger. Hilfsorganisationen erhalten mittlerweile 20 Prozent weniger Spenden und Organisationen, die zur Finanzierung des Krieges aufrufen, verzeichnen einen noch größeren Rückgang. Die Soziologen nennen wirtschaftliche Schwierigkeiten, Inflation, mangelnde Einkommen und Emigration als Gründe.
Nicht alle ukrainischen Männer sind gewillt, für den ukrainischen Staat in den Krieg zu ziehen, um für den Erhalt einer von Oligarchen bestimmten Herrschaft ihr Leben zu opfern. Gleiches gilt selbstverständlich auch für Deserteure der russischen Seite. Wohlhabende können sich vom Kriegsdienst freikaufen, junge Männer aus armen Milieus, die nicht fliehen wollen oder können, kämpfen an der Front für das Wohlergehen anderer, das hat sich seit Erich Maria Remarques Roman nicht geändert – im Westen wie im Osten nichts Neues. Stets ist es das Prekariat, das von der bestehenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung am wenigsten hat, das den größten Blutzoll zahlen soll. Carl Sandburgs Motto „Irgendwann werden sie einen Krieg ausrufen, und niemand wird kommen“ ist bei den Mächtigen in Europa nicht beliebt. Wer vor dem Kriegsdienst ins EU-Gebiet flüchtet, muss in den Mitgliedstaaten mit Abschiebung ins Kriegsgebiet rechnen.
Der Pazifist Ruslan Kotsaba flüchtete 2022 vor der Rekrutierung durch ukrainische Behörden. Das berichtete er damals der NGO Connection e.V., die sich um Deserteure kümmert (connection-ev.org). Da er seine kranke Mutter zur Behandlung nach Deutschland begleitete, erlaubten ihm ukrainische Grenzer die Ausreise. Danach wollte er nicht mehr in die Ukraine zurückkehren, wo ihm sieben Jahre Gefängnis drohten. Auch in Deutschland wollte er nicht bleiben, weil er dort von Interpol gesucht und an die Ukraine hätte ausgeliefert werden können. Deshalb plante er, in den USA Zuflucht zu suchen, wo er Verwandte hat. Die Regierung von Wolodimir Selenski beschrieb Kotsaba ganz anders, als es der Konsument westlicher Leitmedien gewohnt ist. Das angebliche Bollwerk für Demokratie und Freiheit beschrieb er als “Quasi-Diktatur” mit verbotenen Parteien und geschlossenen TV-Sendern.
Was die Stimmung in seinem Land und Europa angeht, skizziert Kotsaba, was Politiker, Militärs und Medien in Europa angerichtet haben:
“Ich sehe es so: Die Pazifistische Bewegung ist verloren. Wir haben nicht gut gearbeitet. Die Leute lieben den Krieg, nicht nur die in der Ukraine, sondern auch die in den europäischen Ländern. Und dieser Krieg wird größer und größer. Es ist eine sehr schreckliche Situation, da das ein Stellvertreter-Krieg zwischen USA und Russland ist, der in der Ukraine stattfindet. Die Ukrainer haben die größten Probleme, große Teile der ukrainischen Gesellschaft haben alles verloren und es gibt kein absehbares Ende. Pazifistische Ideen sind nirgends populär, nicht in der Ukraine und vermutlich auch nicht in Europa. Das sieht man auch an den Medien: Sie wollen diesen Krieg mit Russland.” (connection-ev.org)
Nach Angaben der pazifistischen Organisation DFG-VK hat das ukrainische Parlament die Rekrutierungsbestimmungen in diesem Jahr verschärft und Kriegsdienstverweigerer müssen Haftstrafen fürchten (dfg-vk.de). Vielleicht könnte eine loose canon die bellizistische Stimmung in Europa aufmischen.