Am 18. November 2023 fanden die Feierlichkeiten zum 105. Gründungstag der Republik Lettland statt. Die politischen Höhepunkte des Tages sind die beiden Reden, die der Staatspräsident am frühen Nachmittag vor den Teilnehmern der Militärparade am Daugava-Ufer und abends vor dem Nationaldenkmal in der Rigaer Innenstadt hält.
Die Parade rollt auf die Ehrentribüne zu, Foto: Udo Bongartz
Alljährlich sperren Polizisten die verkehrsreiche Uferstraße des 11. Novembers in Riga, die an den Sieg lettischer Streitkräfte gegen die sogenannte Westrussische Befreiungsarmee erinnert. An dieser gleichermaßen antibolschewistischen wie antilettischen Truppe hatten sich 1919 deutsche Freikorps und Mitglieder der deutschbaltischen Landeswehr beteiligt. Auf den Sieg über diese einst ewig Gestrigen gründet sich die lettische Verehrung des Militärischen. Der 11. November ist heutzutage der Lacplesis-Tag, der militärische Heldengedenktag des Landes. Der 18. November bezieht sich hingegen auf das Jahr 1918, als Gustavs Zemgals die lettische Republik proklamierte.
NATO-Soldaten aus Italien nahmen am Umzug teil, Foto: Udo Bongartz
Auch diesmal säumten Tausende am frühen Nachmittag die Absperrungen, um einen Blick auf Panzerfahrzeuge, Paradierende und auf die Ehrentribüne zu erhaschen, wo der derzeitige Staatspräsident Edgars Rinkevics sich zur Ansprache an die Soldaten anschickte. Die Aufrüstung, die seit 2014 stattfindet, ist auf dieser Waffenschau auch für den Laien erkennbar. Glich die vorgezeigte Gerätschaft vor einem Jahrzehnt noch der Ausstattung einer überambitionierten Wehrsportgruppe, so zeigt sich die lettische Republik heutzutage deutlich gepanzerter und formierter.
Kriegsgerät als Spaß für jung und alt, Foto: Udo Bongartz
Auch die Kleinen dürfen sich am olivgrünen Stahl vergnügen. Ihr Körperformat ist besonders geeignet, um in die engen Luken der Panzerfahrzeuge hineinzukriechen. Zudem lagen im nahegelegenen Passagierhafen vier Kriegsschiffe vor Anker, deren Besatzung ebenfalls zur Besichtigung lud. Die Parade gepanzerter Fahrzeuge wurde angereichert mit Gerätschaften von in Lettland stationierten NATO-Soldaten aus Kroatien, Polen, Tschechien, Italien und Kanada, das die NATO-Battlegroup im lettischen Militärstützpunkt Adazi anführt. Olivgrünes, das mit deutschen Flaggen geziert wurde, war diesmal nicht zu sehen.
Tschechische Waffenschau, Foto: Udo Bongartz
Staatspräsident Rinkevics bemühte in seiner kurzen Ansprache an die Anwesenden, an das politische Establishment sowie an die marschierenden Soldaten, Nationalgardisten, Nachwuchsverbände, Rettungskräfte, Polizisten, Grenzwächter, Feuerwehrleute und “alle Patrioten Lettlands” die üblichen westlichen Stereotype und bezog sie auf den Tod eines lettischen Gefallenen an der ukrainischen Front. Korporal Vitalijs Smirnovs habe sich für den Sieg der Ukraine geopfert: “Vitalijs` Gerechtigkeitsempfinden ließ ihn für die Freiheit der Ukraine kämpfen. Vitalijs gab sein Leben nicht nur für die Ukraine hin, sondern auch für ein freies Lettland und ein freies Europa. Sein Kampf war nicht vergeblich. Wir halten Vitalijs im Gedenken. Wir werden weiterhin unsere Freiheit und die unserer Freunde beschützen!” (president.lv)
Hochwertwörter wie “Freiheit” und “Sieg” wirken recht schal und flach angesichts der Realität in der selbst ernannten westlichen Wertegemeinschaft, in der Abweichungen vom Narrativ des Endsiegs der Ukraine, eines Staates mit monoethnisch gesinnter Regierung, der zum westlichen Werte-Bollwerk verklärt wurde, bereits heikel sind. Diese bornierte Einstellung, diese propagandistische Schwarz-Weiß-Malerei hat nichts dazu beigetragen, einen Waffenstillstand herbeizuführen, einen solchen eher verhindert. So stellt sich mir die Frage, ob Korporal Vitalijs Smirnovs nicht wie viele andere Soldaten auf beiden Seiten der Front vor allem Opfer der Propaganda ihrer Regierungen, Journalisten, Think Tanks und wirtschaftlichen Profiteure wurden und für deren Interessen in einen Krieg zogen bzw. ziehen mussten, bei dem das gemeine Volk stets nur verliert.
Lettische Marine beteiligte sich zu Wasser, Foto: Udo Bongartz
Vor dem blumenbekränzten Nationaldenkmal am Rigaer Stadtkanal, der in lettischer Feuersymbolik leuchtete, wurde eine weitere Tribüne errichtet, wo am Abend eine Folklore-Band auf die nächste Rede Rinkevics` einstimmte. Der Präsident erinnerte abermals an den “Freiheitskampf der Ukraine”, dem die lettische Unterstützung gelte. Hauptthema war diesmal der nationale Zusammenhalt. Er betrachtete Lettland als gemeinsames Haus, in dem jeder Lette seinen Beitrag leisten müsse. “Und wir tun es, indem wir alle Hindernisse bewältigen und überwinden.” Die Spaltungen innerhalb der lettischen Bevölkerung, zwischen Arm und Reich, Letten und russischer Minderheit, Mächtigen und Ohnmächtigen möchte das lettische Staatsoberhaupt mit Handreichungen überwinden: “Doch es ist wichtig, dass jeder lettische Patriot mit Herz und Verstand sich wie zuhause fühlt. Damit der Spalt zwischen den vielen und den wenigen geringer wird. Dass jeder dem anderen die Hand reicht. Damit wir nicht nur reden, sondern uns auch unterhalten können. Damit jeder träumen kann und sich seine Träume erfüllen.” (president.lv)
Ein wütender Stahlvogel, Foto: Udo Bongartz
Hinter diesen Beschwörungen steckt die historische lettische Furcht, nochmals vom riesigen Nachbarn erobert zu werden. Um diese Furcht zu schüren, war lettischen Politikern kein Vergleich Russlands mit Nazi-Deutschland zu billig. Die Wortwahl vom russischen Imperialismus und Genozid am ukrainischen Volk und die angeblichen Lehren, die man aus der Appeasement-Politik vor 1939 ziehen müsse, bedeuteten eine Verharmlosung des nazistischen Angriffskriegs und des Holocausts, die von deutschen Politikern wie Annalena Baerbock nicht nur widerspruchslos hingenommen, sondern regelrecht begrüßt wurde.
Kanada führt die NATO-Battlegroup in Lettland an und ist daher sein besonders enger Verbündeter. Da müsste eigentlich jede Nachricht aus diesem Land von besonderer Bedeutung sein. Als Jaroslaw Hunka, Veteran einer ukrainischen Division der Waffen-SS, im September im Beisein Wolodimir Selenskis als Ehrengast des kanadischen Parlaments mit stehenden Ovationen gefeiert wurde, führte das zu einem internationalen Skandal und der kanadische Parlamentssprecher musste zurücktreten. Auf der Webseite “Lsm.lv”, dem Portal der öffentlich-rechtlichen Medien Lettlands, findet man in der gut funktionierenden Suchfunktion zum Stichwort “Jaroslavs Huņka” keinen Eintrag. So funktioniert Propaganda durch Verschweigen. Foto: Udo Bongartz
“Wir wissen gut, dass unsere staatliche Unabhängigkeit verteidigt werden muss. Feinde versuchen uns einzuschüchtern. Versucht es! Es wird nicht gelingen. Unser Wille für das eigene Land einzustehen ist stärker. Unser Licht ist stärker als ihre Dunkelheit. Unsere warme Liebe ist stärker als ihr leerer Hass. Unser Vaterland und Freiheit ist stärker. Diese Überzeugung soll uns beseelen und unsere Zukunft gestalten!” Dann endete Rinkevics mit dem Titel der Nationalhymne: “Gott, segne Lettland!”