Denkmal für die Revolutionäre von 1905 am Daugava-Ufer in Riga, Foto: Udo Bongartz
Das lettische Vorleben des Anarchisten „Peter the Painter“, Teil 2.
Janis Zaklis erhielt im Januar 1905 von der kurländischen Polizei seine Papiere zurück. Er dachte nach seinem Aufenthalt in der Arrestzelle gar nicht daran, nun braver Bürger zu werden. Es war Winter, doch im ganzen Land war die Stimmung aufgeheizt. Noch im Dezember hatten Arbeiter in Riga, Liepaja und Daugavpils (Dünaburg) auf den Werften und in den Fabriken gestreikt, auch die Arbeiterschaft in der russischen Hauptstadt Petersburg verweigerte die Arbeit. Dort waren am 22. Januar 19051 Zehntausende Demonstranten zum Winterpalast des Zaren gezogen, um menschenwürdige Arbeitsbedingungen, Meinungsfreiheit, Agrarreformen und Demokratie einzufordern. Die Antwort waren Gewehrsalven russischer Soldaten. Beim Petersburger Blutsonntag wurden Hunderte Demonstranten getötet oder verwundet. Der Funke sprang gleich nach Riga über, wo Arbeiter drei Tage später den Generalstreik ausriefen, die Werkshallen verließen und sich zu einer Protestkundgebung ins Zentrum aufmachten. Etwa 60.000 Menschen2 zogen zum Daugava-Ufer. Sie forderten den Acht-Stunden-Tag und mindestens einen Rubel Lohn pro Arbeitsschicht. Auch sie wurden an der Eisenbahnbrücke von russischen Soldaten aufgehalten. Der Menge wurde befohlen, sich in alle Richtungen zu zerstreuen. Die Menge weigerte sich, sie warf mit Schneebällen nach den bewaffneten Handlangern des Zaren. Dann fiel aus der Menge ein Schuss, der einen Soldaten tödlich verletzte. Jetzt hatte die Armee einen Grund, das Feuer zu eröffnen. 73 Demonstranten wurden erschossen, mehr als 200 verwundet, viele ertranken auf der Flucht, weil sie auf dem Eis der Daugava einbrachen. Die Toten und Verletzten waren meistens junge Arbeiter, aber auch Studenten, Lehrer und Schüler.3 Nun hatte auch Riga seinen blutigen Tag. Der lettische Auftakt zum Revolutionsjahr 1905 war erfolgt. Der Streik wurde fortgesetzt, noch viele Streiks und Demonstrationen sollten folgen.
Reste der Semgallener Brücke in Riga, an der die blutigen Auseinandersetzungen begannen, Foto: Udo Bongartz
Genosse Mernieks in wichtiger Position
In dieser aufgeheizten Stimmung erreichte Zaklis Riga. Fortan nannte er sich „Mernieks“, was „Landvermesser“ bedeutet. Das war eine Anspielung auf die Satire „Landvermesserzeiten“, ein Werk der Brüder Reinis und Matiss Kaudzite von 1879. Es gilt als erster lettischer Roman überhaupt. Die Literatenbrüder beschreiben, wie die neuen kapitalistischen Verhältnisse auf dem Lande die lettischen Bauern verführen, wie sie sich beim Versuch, Ackerland zu kaufen, wechselseitig übers Ohr hauen. Ein Grabovskis gibt sich als geachteter Landvermesser aus und beraubt als Rächer der Enterbten die Betrüger. An diesem „Mernieks“ könnte sich Zaklis orientiert haben.4 Genosse Mernieks kommt gleich in eine führende Rolle. Lettlands Sozialdemokratische Arbeiterpartei (LSDSP) hatte sich mit dem in Vilnius gegründeten, nicht zionistischen Jüdischen Arbeiterbund zu einem Föderativen Komitee zusammengeschlossen. Dieses organisierte den landesweiten Protest. Genosse Mernieks wird bereits Anfang 1905 in die technische Kommission des Komitees gewählt und übernimmt dessen Vorsitz. Was sich wie ein gemütlicher Funktionärsjob liest, war eine höchst brisante Aufgabe: Mernieks sollte den bewaffneten Widerstand organisieren, die Arbeiter vor Übergriffen der Polizei und der Armee bewahren, Gefangene gewaltsam befreien, aber auch mit Überfällen Geld für die Parteikasse erbeuten. Ruff erklärt diese schnelle Parteikarriere mit den erfolgreichen Aktivitäten und dem Organisationstalent, das der junge Genosse Mernieks schon demonstriert hatte, in Kurland, als er noch Zaklis hieß. Außerdem sprach für ihn, dass er als Sohn einer jüdischen Mutter das Jiddische gelernt hatte und sich deshalb mit den Kampfgefährten vom Bund leicht verständigen konnte5. Mernieks stellte eine 200 Mann starke Kampftruppe zusammen. Die Genossen entwaffnen Polizisten und Soldaten, plündern Waffengeschäfte, fabrizieren in Werkshallen Sprengsätze und Gewehre. „Faktisch wurde Janis Zaklis zum Befehlshaber der bewaffneten Revolutionskräfte,“ so beurteilt Ruff6 die Rolle des Genossen Mernieks im Jahr 1905.
Das Rigaer Zentralgefängnis, Foto: Wikimedia Commons
Bewaffneter Kampf und Irreführung durch Konterrevolutionäre
Mernieks führte mit seiner Truppe den bewaffneten Kampf recht erfolgreich. Ihnen gelingt die Befreiung zweier Gefangener, die wegen eines Sprengstoffanschlags verhaftet worden waren. Sie warteten im modernen, hoch gesicherten Rigaer Zentralgefängnis auf ihre Hinrichtung. Die 52 Angreifer, die Mernieks kommandiert, erschießen einige Wärter, bleiben selbst unverletzt7. Später wird auch die Befreiung eines Genossen aus einem Polizeirevier gelingen. Mernieks trug gewiss dazu bei, dass sich die Gewalt aufschaukelte. Er organisierte Sprengstoffanschläge auf Polizisten und Soldaten. Die Revolutionäre kämpften in Riga, Livland und Kurland gegen die Selbstschutztruppen der Barone und gegen die Kosaken des Zaren. Doch Mernieks Kampfverband verteidigte auch und schützte die Arbeiterschaft und Minderheiten vor staatlichen Übergriffen und reaktionären Kräften. Die Vollstrecker des Zaren nahmen auf Menschenleben ebenfalls keine Rücksicht. Folgt man Ruffs Erklärungen, hatte Russland bereits einen `tiefen Staat`, der durch geheime Aktionen das Volk gegeneinander aufwiegelte, um die zaristische Herrschaft zu sichern. Zarentreue russische Nationalisten hatten sich in Parteien und Gruppen organisiert. Unter ihnen befanden sich Schwarze Hundertschaften, frühe Faschisten8, die sich vor allem aus Gutsherren, reichen Bauern, Bürokraten, Kaufleuten und orthodoxen Geistlichen9 zusammensetzten. Sie hetzten im russischen Reich gegen Sozialisten und Juden, zogen Teile der russisch-orthodoxen Arbeiterschaft auf ihre Seite. Offiziell wurden sie von Kosaken bekämpft, doch insgeheim beteiligten sich Polizisten an ihren Taten. Nach Ruffs Angaben finanzierten Banker diese reaktionären Horden. Der aufgestachelte Mob verteilte antisemitische Flugschriften, brandschatzte die Zentren des politischen Gegners, verbreitete mit Pogromen Furcht und Schrecken10. Im Oktober 1905 wüten Schwarze Hunderschaften mit verführten russischen Arbeitern tagelang in der Moskauer Vorstadt Rigas, verwandeln den Kampf für soziale und politische Rechte in einen ethnischen Konflikt gegen Juden und revolutionäre Letten11. Sie plündern jüdische Geschäfte, greifen ein jüdisches Armenasyl an und töten Bewohner. Mernieks` Truppe greift ein, liefert sich einen Schusswechsel mit den Angreifern. Dutzende sterben oder werden verletzt12. Der livländische Gouverneur verbot danach die Aufmärsche der Hundertschaften, um Pogrome zu verhindern13.
Zentrale Polizeibehörde in Riga, Foto: Wikimedia Commons
Kampf um Provodniek
Im Dezember des Revolutionsjahrs besetzten zaristische Reitersoldaten Rigas größtes Werk, die Gummifabrik Provodnik im Stadtteil Sarkandaugava. Ein Augenzeuge berichtete, wie die russischen Dragoner die Arbeiter drangsalierten, stahlen, Frauen vergewaltigten14. Unter Mernieks` Befehl gelingt im Morgengrauen der Überraschungsangriff. Die Angreifer töten 17 Soldaten, etwa 20 werden verletzt. Wenig später erscheinen Kosaken mit zwei großen Kanonen. Sie fordern von den Arbeitern die Überstellung ihrer Befreier. Doch die erneut Bedrohten haben keine Ahnung von deren Verbleib. Nach zehn Minuten erfolgt der Beschuss, die meisten Arbeiter können entkommen, doch fünf werden getötet. Schließlich fordert der Fabrikherr, den sinnlosen Beschuss einzustellen. Aus Ruffs Beschreibungen wird deutlich, dass Zaklis alias Mernieks ein führender Revolutionär in wichtiger Funktion war. Doch die sowjetischen Geschichtsschreiber werden seine Rolle herunterspielen. Dieser Revolutionär tendierte nicht zum Bolschewismus. Seine gleichsam freiheitliche wie herrschafts- und staatsfeindliche Gesinnung widerspricht der Lesart, als habe es sich 1905 um ein bloßes Vorspiel von 1917 gehandelt. Im Jahr 1905 agierten noch linke Kräfte gemeinsam, die sich später feindlich gesinnt waren. Die offizielle lettische Geschichtsschreibung hat die Sicht sowjetischer Historiker zumindest in diesem Punkt übernommen. Im staatlich geförderten Buch über Lettlands Geschichte im 20. Jahrhundert, das 2005 erschienen ist, wird im Kapitel über das Revolutionsjahr 1905 weder ein Zaklis noch ein Mernieks erwähnt.15
Denkmal zur Revolution von 1905 im Rigaer Viertel Griezinkalns, Foto: Udo Bongartz
Taktieren des Zaren und politische Massendemonstrationen
Lettland entwickelte sich seit den Januartagen zum buchstäblichen Brennpunkt der Revolution. Die lettischen Sozialdemokraten waren gut organisiert, diszipliniert und sozialistisch geschult. Ihr Kampf machte international Schlagzeilen und wurde von den westeuropäischen Genossen gelobt. Die Streiks in Riga und in den Provinzstädten brachten Erfolge. Die Fabrikherren machten Zugeständnisse, erfüllten Forderungen, den Arbeitstag auf acht, maximal zehn Stunden zu begrenzen, den Mindestlohn zu erhöhen, Akkordarbeit abzuschaffen, drangsalierende Vorarbeiter zu entlassen. In Riga einte der Klassenkampf die ethnischen Gruppen, lettische Arbeiter demonstrierten mit russischen, jüdischen und deutschen Kollegen. Auf den Kundgebungen wurde in verschiedenen Sprachen gesprochen. Schwieriger war es, die politischen Forderungen zu erkämpfen, sie bedrohten die Zarenherrschaft: Eine Volksvertretung, Meinungs- und Pressefreiheit sowie das Ende des russisch-japanischen Krieges. Zar Nikolaus II. verhielt sich reaktionär, wollte keine Beschränkung seiner Macht zulassen. Vielleicht hatte er aus der deutschen Revolution von 1848 gelernt: Damals machten die Fürsten in ihrer bedrohlichen Lage Zugeständnisse, um sich die Macht zu sichern. Nikolaus II. beendete im September den verlorenen Krieg gegen Japan und veröffentlichte im Oktober 1905 ein Manifest. Er versprach ein Parlament, Meinungsfreiheit und Wahlrecht – und behielt sich gegen alle demokratischen Entscheidungen ein Vetorecht vor. Lettlands Revolutionäre misstrauten dem Zaren und organisierten weitere Massendemonstrationen. Damals lockten politische Forderungen die Menschen in solchen Massen auf die Straße, wie man es heutzutage nur von Sportveranstaltungen gewöhnt ist. Zu den größten Kundgebungen des Jahres 1905 versammelten sich über 100.000 Demonstranten in Pardaugava und Griezinkalns. Die Arbeiter gründeten Gewerkschaften. Die lettischen Sozialdemokraten hatten auch kulturelle und patriotische Ziele. Auf den Ämtern der Ostseeprovinzen saßen deutsche oder russische Beamte, die Politik bestimmten von Petersburg eingesetzte Gouverneure, deutschbaltische Ritterschaften verwalteten in ihren Landtagen die baltischen Provinzen des Zaren. Ein Kongress der Volksschullehrer mit tausend Teilnehmern forderte Lettischunterricht an den Schulen, Sozialdemokrat Rainis, Lettlands bekanntester Dichter, die lettische Selbstverwaltung. Doch die Zeit der Kundgebungen, Diskussionen und Verhandlungen ging zuende. Die Revolution der roten Fahnen färbte sich seit Dezember blutrot, besonders auf dem Lande, dazu mehr demnächst im dritten Teil.
Das lettische Vorleben des Anarchisten „Peter the Painter“
1. Janis Zaklis, ein kurländischer Schüler der Revolution
2. Janis Zaklis als Mernieks, Revolutionär in Riga
4. Zaklis` Wandlung zum Anarchisten
Quellen:
1 Hier nach gregorianischem Kalender, da in den historischen Texten häufig nicht vermerkt wird, ob die Datum gregorianisch oder julianisch angegeben ist, werden in diesem Text weitere Tagesdaten vermieden.
2 Heutzutage sind schon 10.000 in Riga eine Großdemonstration
3 Zahlen aus: Daina Bleiere u.a.: Latvijas vesture, 20. gadsimts, S. 55, [Riga] 2005
4 Vgl. Rufs, S. 50f.
5Rufs, S. 54
6Ebd, S. 54
7Ebd, S 59ff.
8fVgl. https://latvianhistory.com/tag/1905-revolution/
9fVgl. www.britannica.com/topic/Black-Hundreds
10fRufs, S. 66
11fVgl. https://latvianhistory.com/tag/1905-revolution/
12Ebd. S. 67
13Vgl. https://latvianhistory.com/tag/1905-revolution/
14fEbd. S. 78ff.
15fBleiere, a.a.O., S. 55ff