Do. Nov 21st, 2024

Erweiterung des Rigaer HBF für die Rail Baltica, Foto: Udo Bongartz

Vom „Jahrhundertprojekt“ ist die Rede und das könnte die Rail Baltica nun tatsächlich werden, denn inzwischen ist schon eine Bauzeit von 80 Jahren im Gespräch. Die Planungen sind konfus, die Kosten außer Kontrolle. Der 840 Kilometer lange Schienenstrang der Schnellbahnstrecke, die mit 240 km/h Spitze nicht mal Hochgeschwindigkeit erreicht, gerät im Sinne Friedrich Dürrenmatts zu einer Tragikomödie kollektiver Verantwortungslosigkeit: „Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt.“

Die Kräne der Rail-Baltica-Baustelle überragen die Rigaer Innenstadt, Foto: Udo Bongartz

Die Rail Baltica, das Gemeinschaftsprojekt der drei baltischen Staaten und Polens, soll Tallinn, Riga und Kaunas mit dem westeuropäischen Schienennetz verbinden. Bislang verkehren Züge im Baltikum auf der breiteren Spur aus sowjetischer Zeit, so dass Passagiere und Fracht an der polnisch-litauischen Grenze einen längeren Aufenthalt haben, weil dort die Züge gewechselt werden müssen. Militärs warnen, dass der Spurbreitenwechsel Waffentransporte verzögert. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind in der Rigaer Innenstadt rund um den Hauptbahnhof umfassende Bautätigkeiten zu beobachten. Rail Baltica war jahrzehntelang ein bloßer Plan, der die baltischen Regierungen kaum kümmerte, nun neigen diejenigen, die über sie entscheiden, zum kostspieligen Aktionismus.

Gerade gebaute Rail-Baltica-Trasse über dem Rigaer ZOB, Foto: Udo Bongartz

Baiba Rubesa leitete drei Jahre lang das baltische Gemeinschaftsunternehmen RB Rail AS, das den Bau des Schienenstrangs organisiert. Sie trat 2018 entnervt zurück, weil sie feststellte, dass die nationalen Regierungen kein ernsthaftes Interesse gehabt hätten, dieses internationale Projekt tatsächlich auf den Weg zu bringen. Der derzeitige lettische Verkehrsminister Kaspars Briskens kritisiert die Managementstruktur des Unternehmens, in der die Führung sich faktisch selbst kontrolliert. Die Folgen sind unabgestimmte Bauprojekte, mangelnde Gesamtplanung und vor allem eine Kostenexplosion. Ursprünglich wurde der Preis des Gesamtprojekts auf 6 Milliarden Euro beziffert. Anfang Juni publizierten die baltischen Rechnungshöfe gemeinsam die Hiobsbotschaft, dass der vollständige Bau der Rail Baltica nun 24 Milliarden Euro verschlingen würde; allein für Lettland seien zusätzliche 5 Milliarden fällig. Noch ist nicht absehbar, wer das bezahlt, zumal die Mitfinanzierung der EU, die 85 Prozent der Kosten trägt, nur bis 2027 gesichert ist. Der ursprüngliche Eröffnungstermin von 2026 ist nicht haltbar, er wird sich um mindestens vier Jahre verzögern, doch auch 2030 ist ungewiss und bis dahin könnte nur eine Schwundstufe des ursprünglichen Plans verwirklicht werden. Teile des Schienenstrangs sollen nun lediglich eingleisig gebaut und der Bau von Zwischenstationen gestrichen werden. Deutsche, die man auf Stuttgart 21 hinweist, können sich trösten: Jahrhundertprojekte entwickeln sich auch anderenorts zum Jahrhundertdesaster.

Dort, wo einst ein Dach wartende Busreisende vor Regen schützte, verläuft nun die Rail-Baltica-Trasse. Buspassagiere müssen nun auf der anderen Seite ohne Bedachung auf den Bus warten, Foto: Udo Bongartz

Obwohl noch unklar ist, ob alle erforderlichen Grundstücke enteignet werden können, haben Bauarbeiter in Riga mit dem Bau der Trasse und der Erweiterung des Rigaer Hauptbahnhofs begonnen. Die lettische Generalstaatsanwaltschaft interessiert sich nun dafür, wer die Bauten in Auftrag gab, ohne sich abzustimmen. Die Verantwortlichen sollen bereits 2016 gewusst haben, dass die Anbindung an das westeuropäische Schienennetz teurer wird als ursprünglich berechnet. Doch sie informierten ihre Regierungen nicht. In die Kritik geriet der ehemalige Verkehrsminister Talis Linkaits, der seine Ministerkollegen 2022 nicht über Kostensteigerungen in Kenntnis gesetzt haben soll. Seit Anfang Juni ermittelt die lettische Generalstaatsanwaltschaft und die Abgeordneten der Saeima beschlossen, eine Untersuchungskommission zu Kostenexplosion und Fehlplanung einzusetzen.

Für Fußgänger stellen die Rail-Baltica-Baustellen in der Rigaer Innenstadt eine Art Hindernislauf dar, Foto: Udo Bongartz

Andris Kulbergs, Oppositionsabgeordneter und Vorsitzender der Untersuchungskommission, gab Latvijas Avize ein aufschlussreiches Interview zum Rail-Baltica-Desaster: „Es gibt niemanden, der das Projekt verantwortet, es entwickelte eine vollständige Eigendynamik! Wir sehen, dass der Geldgeber [gemeint ist die EU] uns damit beauftragte, ein einstöckiges Haus mit Fundament zu bauen. Wir haben uns ausgedacht, dass wir an diesem Haus auch Wellness, Whirlpool, Garage und Sauna haben wollen. Und wir beginnen, die Sauna zu bauen und die Garage ungeachtet dessen, was der Geldgeber sagte: „Nein, ihr sollt nur das einstöckige Haus haben.“ Und nun haben wir festgestellt, dass weder dieses Haus, noch Wellness zustandekommen. So weit ist es gekommen.“

Gegenüber der Rail-Baltica-Baustelle am Rigaer HBF befindet sich das lettische Verkehrsministerium, Foto: Udo Bongartz

Kulbergs kritisiert, dass niemand den Bürgern die drängenden Fragen zum Planungschaos beantwortet: „Wir beschäftigen uns seit 10 Jahren mit diesem Projekt, aber wir können weiterhin nicht sagen, wo denn die Haupttrasse entlanggehen wird. Was haben diese Leute zehn Jahre lang gemacht? Verantwortliche Leute mit großen Gehältern… Wie oft die Regierungen wechselten. Keiner kann bislang sagen, wo die Strecke verlaufen wird, ob es Brücken geben wird oder nicht, ob es durch Riga geht oder nicht, ob ein Knotenpunkt Salaspils entsteht oder nicht.“ Schließlich kennzeichnet er das lettische Planungsdesaster als Teil des baltischen Gesamtdesasters: „Die Verantwortung liegt nicht nur bei Lettland. Wir sind als drei baltische Staaten gemeinsam dafür verantwortlich, das Projekt bis zum Ende durchzuführen, denn es wird von Europa gemeinschaftlich finanziert.“

Ein Gedanke zu „Das Rail-Baltica-Desaster: Organisierte Verantwortungslosigkeit“
  1. Ja herzliche Glückwünsche, liebe Letten! Die EU wächst zusammen, auch im Scheitern. Und wenn die Waffentransporte zur russischen Grenze nicht in Gang kommen: umso besser.

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