In Belarus reagieren Männer auf den militärischen Einberufungsbefehl im Sinne Carl Sandburgs berühmten Zitats: „Sometime they’ll give a war and nobody will come.“ Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine fürchten Belarussen, dass ihre Armee auf russischer Seite in den Krieg verwickelt werden könnte. Sie verweigern den Wehrdienst oder desertieren und nehmen die Verfolgung durch das Regime auf sich.
Laut Informationen der belarussischen Exilorganisation Unser Haus, die in Vilnius Zuflucht fand, besteht die belarussische Armee aus etwa 48.000 Soldaten. Hinzu kommen 12.000 Grenzschützer. Militärische Einheiten dienen auch dazu, die eigene Bevölkerung zu kontrollieren. Kriegsdienstverweigerung hat schwere Folgen; sie beinhalten Geldstrafen, langjährige Inhaftierung, in extremen Fällen kann Kriegsdienstverweigerung unter dem Vorwurf des „Hochverrats“ sogar mit dem Tod bestraft werden. Gegen Kriegsdienstverweigerer finden Schauprozesse statt, die vom Fernsehen übertragen werden. Sie sollen jene abschrecken, die sich ebenfalls dem Wehrdienst entziehen wollen.
Ohne Nachweis, den Militärdienst absolviert zu haben, kann sich in Belarus kein Bewerber legal auf eine Stelle bewerben. Er wird dann genötigt, sich mit illegalen Tätigkeiten zu verdingen. Unser Haus berichtet zudem von den unmenschlichen Bedingungen in belarussischen Kasernen, die Gefängnissen gleichen. Demnach werden die Rekrutierten geschlagen oder müssen sonstige physische und psychische Misshandlungen ertragen und sie sind tagtäglich der Propaganda des Regimes ausgesetzt. Absolventen der Militärakademie, die sich weigern, Militärdienst zu leisten, müssen mit mindestens fünf Jahren Zwangsarbeit und hohen Geldstrafen rechnen.
Aus diesen Gründen fliehen belarussische Kriegsdienstverweigerer und Deserteure ins Nachbarland Litauen. Doch dort sind sie vor Abschiebung nicht sicher, weil die Behörden des baltischen Landes sie als „Gefahr für die nationale Sicherheit“ einstufen. Ihnen wird vorgeworfen, mit belarussischen oder russischen Geheimdiensten zu kooperieren. Bei Abschiebungen wird behauptet, dass ihnen in Belarus keine Gefahr drohe. Im Oktober 2024 berichtete ein litauischer TV-Sender über aktuelle Fälle: Seit Juli wurden neun Belarussen gewaltsam abgeschoben (tv3.lt). Es trifft nicht nur Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, sondern auch jene, die sich in der belarussischen Opposition engagieren. Unser Haus schätzt, dass etwa 2000 Belarussen in Litauen von Abschiebung bedroht sind.
Der litauische Verteidigungsminister Laurynas Kasciunas befürchtet, dass belarussische oder russische Geheimdienste die Situation der Familienangehörigen ausnutzen könnten. Oftmals setzt das belarussische Regime im Land verbliebene Angehörige von Geflüchteten unter Druck. Kasciunas schätzt das Risiko „wirklich groß“ ein, dass auf diese Weise Lukaschenkos Regime sensible Informationen erhalte. Allerdings liefern die litauischen Behörden der Öffentlichkeit dafür keine Nachweise. Es ist möglich, dass es sich nur um theoretische Annahmen handelt.
Für die Betroffenen bedeutet dies ein Leben in ständiger Unsicherheit und der Furcht, doch noch in belarussischen Kerkern zu enden. Unser Haus berichtet u.a. vom Deserteur Mikita Sviryd (connection-ev.org). Der 19jährige wurde Ende Oktober 2021 gegen seinen Willen rekrutiert. In der belarussischen Armee musste er Misshandlungen ertragen. Nach dem 24. Februar 2022 beobachtete er, wie eng die belarussische und russische Armee kooperieren. Als er fürchtete, dass Belarus an der Seite Russlands in den Krieg ziehen könnte, beschloss er, nach Litauen zu flüchten. Doch die dortige Migrationsbehörde lehnte seinen Asylantrag ab; der Oberste Gerichtshof bestätigte die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung. Inzwischen versteckt sich Sviryd, hält sich illegal auf EU-Gebiet auf und fürchtet die Zwangsabschiebung. Wegen seiner Angst vor Folter und Tod in einem belarussischen Gefängnis leidet er Depressionen und ist suizidgefährdet.
Neben angeblichen Sicherheitsbedenken scheint auch der allgemeine Vorbehalt baltischer Politiker gegen Deserteure und Verweigerer ein Grund für diese Abschiebungspraxis darzustellen. Politiker wie Edgars Rinkevics, Kaja Kallas oder Gabrielus Landsbergis wollen russischen Deserteuren kein Asyl gewähren. Sie stellen ihrer Meinung nach ein Sicherheitsrisiko dar. Statt zu flüchten sollten sie gegen Putin kämpfen. Gegen belarussische Deserteure herrscht offensichtlich eine ähnliche Einstellung – sollen sie doch gegen Lukaschenko kämpfen.
Doch nicht nur Deserteure werden von der litauischen Migrationsbehörde abgewiesen. Sogar jene, die aus westlicher Perspektive auf der „richtigen“ Seite kämpften, sind in Litauen nicht vor Abschiebung gefeit. Der Belarusse Vasily Veremeychik war Kommandeur eines belarussischen Freiwilligenbataillons auf ukrainischer Seite. Danach suchte er Zuflucht bei Verwandten in Litauen. Doch die Migrationsbehörde sah in diesem Gegner des Lukaschenko-Regimes eine „Gefahr für die nationale Sicherheit“, weil er 2016 seinen Dienst in der belarussischen Armee geleistet hatte. Veremeychik flüchtete nach Vietnam, wo er im November 2024 festgenommen und nach Belarus abgeschoben wurde (reuters.com). Reuters berichtet, wie Veremeychik in einem ansonsten leeren Flugzeug nach Minsk verschleppt wurde. Das Ereignis habe das belarussische Fernsehen mit „dramatischer Musik“ übertragen. Ihm drohen nun wegen „Terrorismus“ 20 Jahre Haft, vielleicht sogar die Todesstrafe. Reuters zitiert einen Vertreter des belarussischen Geheimdienstes. Veremeychik sei eine Warnung an alle, die er als „Extremisten und Terroristen“ bezeichnete. Solche Leute sollten wissen, dass die belarussische Justiz sie „an jedem Ort der Erde aufgreifen wird“.
Unser Haus beklagt, dass das Ministerium für die Nationale Sicherheit Litauens seine Verantwortung für diesen Fall nicht anerkenne. Stattdessen bedrohe es jeden, der auf die massenhafte und absurde Einstufung von Belarussen als „Bedrohung für die nationale Sicherheit Litauens“ hinweise. Die Aktivisten befürchten, dass der Druck auf belarussische Verteidiger der Menschenrechte in Litauen zunehmen werde.