Do. Nov 21st, 2024

Unter der Losung Slava Ukraini solidarisieren sich Ukrainer und Esten, Foto: Metsavend, CC BY-SA 4.0, Ссылка

Jurijs Mihailovs gründete gemeinsam mit anderen russischsprachigen Aktivisten am 14. Januar 2021 die Facebook-Gruppe “Kriminala Latvija” zum Hashtag “Politik und Menschenrechte”, die etwa 25.000 Follower erreichte. Beiträge dieser Seite, die allen Facebook-Nutzern zugänglich sind, kamen ins Visier des lettischen Geheimdienstes VDD. Die Behörde verdächtigte den Administrator, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen den Frieden öffentlich zu rühmen und zu rechtfertigen bzw. Äußerungen von Nutzern in diesem Sinne nicht zu blockieren. Zudem würden mit Hilfe eines automatisierten Datenverarbeitungssystems nationaler und ethnischer Hass und Zwietracht geschürt (vdd.gov.lv). Ein Untersuchungsrichter genehmigte Mihailovs Arrest vom 24. März bis 19. Mai 2022. Ein lettisches Gericht verurteilte ihn am 25. September 2023, sah sein Delikt aber mit dem Gefängnisaufenthalt als abgegolten an. Die in lettischen Medien kursierenden Zitate, die der VDD anführte, verdeutlichen, dass nicht Sachverhalte, sondern das Ringen um Diskurshoheit zur richterlichen Verurteilung führte.

Diskurs bezeichnet in der Gesellschaft das Spektrum von Meinungsäußerungen zu einem Thema, das erwünscht, zulässig, geduldet oder bestraft wird. Wer was wie und in welchem Format äußern darf, ist eine Machtfrage. Diskurskonflikte entzünden sich nicht unmittelbar an Tatsachen, sondern an der Frage, ob und in welchem Zusammenhang Tatsachen erwähnt, ausgelassen und bewertet werden.

Die nach richterlicher Auffassung gesetzeswidrigen Facebook-Äußerungen Mihailovs und seiner Nutzer widerspiegeln die Diskursstreitigkeiten zwischen westlichem und russischem Narrativ, also der unterschiedlichen Weise, wie Sachverhalte in westlichen und russischen Leitmedien dargestellt werden. Strittig ist beispielsweise das Geschehen in der Ostukraine seit 2014, das bis zum russischen Einmarsch bereits 14000 Menschenleben einforderte. Verantwortete das Sterben, wie es aus westlicher Sicht dargestellt wird, ein Terrorregime aus Separatisten, das angeblich von Russland installiert wurde oder war es aus russischer Perspektive das Ergebnis eines Bürgerkrieges, den die nationalistische Kiewer Regierung gegen die eigene abtrünnige Bevölkerung im Osten führt?

Zudem beziehen sich die zur Verurteilung herangezogenen Zitate auf das Thema ukrainischer Faschismus. Während aus lettischer und westlicher Perspektive ukrainische Nazis und Rechtsextremisten keine besondere Gefahr darstellen und Berichte über Asow und ähnlicher Gruppen als kremlfreundliche Propaganda abgetan werden, benutzte Russland rechtsextremistische Phänomene als (m.E. fragwürdige) Rechtfertigung, das Nachbarland anzugreifen. In diesem Zusammenhang ist der rechtsextremistische Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus in Odessa vom 2. Mai 2014 zu betrachten, bei dem 42 prorussische Aktivisten starben. Kritiker bemängeln, dass die ukrainischen Behörden bis heute keine ernsthaften Ermittlungen einleiteten.

Ein weiterer Diskursstreit ist die nationalistische Losung “Slava Ukraini”, die viele Europäer, die sich mit der Selenski-Regierung solidarisieren, übernommen haben. Antifaschisten erinnern daran, dass diese Losung Teil des faschistischen Grußes der Organisation Ukrainischer Nationalisten OUN war. Unter diesen Voraussetzungen habe ich den Eindruck, dass Mihailovs nicht wegen der Verbreitung von Fake News verurteilt wurde, sondern weil er und Gesinnungsgefährten nicht dem westlichen Diskurs folgten und Tatsachen anders bewerteten. Hier die Zitate von Mihailovs Facebook-Seite, die auf Lettisch im Internet kursieren.

Mihailovs schrieb am Tag des russischen Einmarschs am 24. Februar 2022: “Ich sehe so viele Veröffentlichungen über den Krieg in der Ukraine – Russland ist schlecht. Und wo wart ihr, Verteidiger, die ganzen acht Jahre lang, als sie sich selbst bombardierten? Wo war eure Forderung `wir wollen Frieden in der Ukraine`”? (lsm.lv)

Am 13. März 2022 fragte Mihailovs: “Einfache Umfrage unter Letten, welche rufen `Slava Ukraini`. Was für ein Ruhm. Was bedeutet das?” Darauf erhielt er beispielsweise folgende Antworten, die er nach richterlicher Meinung hätte löschen müssen:

“Gibt es da noch irgendwelche Zweifel, dass Slava Ukraini Heil Hitler bedeutet? Leute, wir sind beim Faschismus angelangt. Aber Putin ist ein Kerl! Wir brauchen jemanden wie Putin. Nun, misch dich ein.”

Eine andere Replik lautete; “Was für Helden? Die eigenen töten die eigenen Leute! Und warum seid ihr nicht mit Fähnchen herumgelaufen, als man acht Jahre lang Kinder, Mütter, Menschen tötete? Dort dauert der Krieg ganze acht Jahre! Die Ukrainer töten auch die eigenen! Auch in Odessa verbrannten Ukrainer selbst ihre eigenen Bürger! Schaut, das ist Faschismus! Aber ja, heute lebt ihr! Ihr habt einen friedlichen Himmel über dem Kopf – dafür sei der Sowjetunion Dank!!! Dank den Russen!!!”

Mihailovs ist nicht der einzige Dissident, der die lettischen Strafverfolgungsbehörden beschäftigt. Laut LSM, dem Informationsportal der öffentlich-rechtlichen Medien Lettlands, hat VDD mehrere Dutzend solcher Verfahren eingeleitet.

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