Psychiatrie kommt in der medialen Öffentlichkeit kaum vor. Das Tabuthema ist mit Vorurteilen behaftet, so dass die psychiatrische Realität nur wenigen bekannt ist. Die Behandlungen in den lettischen psychiatrischen Kliniken scheinen oftmals skandalös zu sein. Betroffene berichteten den Journalisten des Lettischen Fernsehens LTV von grobem, teils gewalttätigem Personal und Zwangsbehandlungen, die laut UN-Behindertenrechtskonvention, die auch Lettland 2008 ratifizierte, nicht mehr vorkommen dürfen (lsm.lv). Die TV-Sendung „Aizliegtas paniemens“ schilderte die schlechten Erfahrungen einer heute 18jährigen mit drei psychiatrischen Kliniken. Sie scheint kein Einzelfall darzustellen.
Die junge Psychiatrie-Patientin, die von den Journalisten das Pseudonym Laura erhielt, litt schon als Dreijährige unter psychischen Problemen. Bei einer Fahrt mit ihren Adoptiv-Eltern äußerte sie den Wunsch, ausgesetzt zu werden, weil niemand sie brauche und sie nicht mehr leben wolle. Zu früh geboren war sie im Alter von sechs Monaten von ihrer leiblichen Mutter verlassen worden. Ihre Adoptiveltern, die fortan in diesem Artikel nur noch Eltern genannt werden, vermuten, dass sich bei ihr unbewusst der Gedanke festgesetzt habe, nicht gewollt zu sein. Später stellten Ärzte Entwicklungsstörungen fest: Sie hatte Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten, galt als autistisch, hyperaktiv und schwerhörig. Somit wurde sie auch noch als „geistig behindert“ diagnostiziert. Sie kam mit acht Jahren in die neun Jahre dauernde lettische Grundschule. Besonderen Spaß machte ihr der Kunstunterricht. Für ein gemaltes Bild erhielt sie einmal den ersten Preis in einem Schulwettbewerb. Nach Beendigung der Schule besuchte sie eine Kindertagesstätte. Ihr Berufswunsch ist es, Kindergärtnerin zu werden. Doch die Autoren des Beitrags halten eine Tätigkeit als Pferdepflegerin für realistischer.
Zu Beginn dieses Jahres geriet die mittlerweile 17jährige nach langer Zeit erneut in eine psychische Krise. Sie verletzte sich absichtlich selbst und sprach über den Wunsch, sich das Leben zu nehmen. Eines Tages rief sie aus eigener Initiative den medizinischen Rettungsdienst, um sich abholen zu lassen. Die Sanitäter fuhren sie in die Kinderklinik der Universität. Aber bereits am Abend war sie wieder zu Hause, weil am Feiertag kein diensthabender Psychiater zur Verfügung stand. Als sich am nächsten Tag ihr Zustand nicht gebessert hatte, brachten die Eltern sie erneut in die Klinik, wo sie in der Notaufnahme über Nacht bleiben durfte. Doch am folgenden Tag teilten die Ärzte der Familie mit, dass Laura nicht bleiben könne, weil die Klinik überfüllt sei. Im Notfall empfahlen die Ärzte, wieder den Rettungsdienst anzurufen. Lauras Mutter hatte den Eindruck, dass ihre Tochter nur auf Station hätte bleiben können, wenn sie geblutet hätte oder sonst etwas Schlimmes vorgefallen wäre.
Den Eltern empfahl man eine Klinik in Ainazi, die aber eine Warteliste führte. Erst nach einigen Monaten wurde Laura aufgenommen. Laut Eigenwerbung bietet die Klinik von Ainazi als einzige in Lettland psychiatrische Hilfe für Kinder und Jugendliche mit langwierigen psychischen Störungen. Es gebe Psychiater, Psychologen und verschiedene Therapeuten, die sich um 140 Patienten kümmerten.
Als Laura in die Klinik kam, wurde ihr erst einmal das Mobiltelefon abgenommen. Auf diesem war eine App installiert, die die Eltern nicht nur über den Standort Lauras informierte, sondern die auch die Möglichkeit bot, bei Gesprächen in der Umgebung mitzuhören. Den Eltern wurde verboten, sie auf Station zu besuchen. Kommunikation dürfe nur über die Pfleger erfolgen. Zunächst nahmen die Angehörigen die Anweisungen hin, informierten sich aber, dass sie widerrechtlich waren. Den Zugang zu ihrer Tochter durfte die Klinik nicht verwehren.
Der Vater wies zudem auf eine Alarmsirene der freiwilligen Feuerwehr hin, die in Kliniknähe installiert war, um die Feuerwehrleute zu Einsätzen zusammenzurufen. Zuweilen ertönte sie sogar nachts, so dass die jungen Patienten in Aufregung versetzt und mit Beruhigungsmitteln behandelt wurden. Das Personal beschwichtigte, weil die Sirene ja nicht lange heule. Dennoch erreichten die Eltern, dass sie dauerhaft abgeschaltet blieb. Die Klinikleitung zeigte sich dafür dankbar, doch das zuständige Personal blieb reserviert. Pflegerinnen weigerten sich, mit Laura zu sprechen. Nach Aussage der Mutter seien sie nicht nett, verständnisvoll und hilfsbereit gewesen, sondern das glatte Gegenteil. Unter solchen Umständen könnten die Patienten keine emotionale Stabilität erlangen.
Bei den Therapien schien Disziplin wichtiger als persönliche Zuneigung, Empathie und Verständnis. Die Mutter kommentiert die Behandlung: „Was diese Mitarbeiter in dieser Abteilung geschaffen haben, war… Wie soll man es richtig beschreiben? Es war zerstörerisch, emotional zerstörerisch.“ In Ainazi wurde Laura noch depressiver, so dass die Eltern beschlossen, sie nach Hause zu holen. Die Hoffnungen, die Laura und ihre Eltern in die psychiatrische Behandlung gesetzt hatten, waren bitter enttäuscht worden.
Seitdem Laura 18 Jahre alt ist, darf sie die Kindertagesstätte nicht mehr besuchen, in der sie sich mit anderen angefreundet hatte. Nun ist die Erwachsenenpsychiatrie zuständig. Doch auch dort erging es ihr wenige Zeit später nach Beginn einer neuen Krise kaum besser. Im Sommer kam sie ins Nationale Psychische Gesundheitszentrum (NPVC) in Riga an der Tvaika iela. Es ist mit 500 Betten die größte psychiatrische Anstalt Lettlands. Auch dort erwies sich das Personal als grob und empathielos. Als Laura frohgelaunt mit ihrer Mutter telefonierte und dabei auf einem Sofa saß, befahl ihr ein Sanitäter im barschem Ton, den Platz zu verlassen, der ihm zustehe. Als sie ihm später mitteilte, dass sie nicht einschlafen könne, zeigte er sich gleichgültig.
In der nordlettischen Klinik Strenci schien die Atmosphäre besser, der erste Eindruck gut, ein Ort in der Natur. Laura war schon drei mal da. Doch die Hauptprobleme der lettischen Psychiatrie wurden auch hier sichtbar. Das Personal erwies sich auch hier teilweise als nachlässig oder intolerant. Es gab keinen Therapieplan, weil bereits im Frühsommer das Budget für psychologische Dienstleistungen aufgebraucht war. Als Laura Bauchschmerzen hatte und sich weigerte, Medikamente zu nehmen, wurde sie in die Wachabteilung gebracht, wo sie per Videoüberwachung unter Dauerbeaufsichtigung stand. Solche Verlegungen in unangenehme Abteilungen haben in der Psychiatrie Tradition. Das Personal benutzt diese Maßnahme, um Patienten wegen ihres Verhaltens zu sanktionieren.
Der Streit über Medikamenteneinnahme setzte sich später fort. Laura hat in Stresssituatioen Schwierigkeiten, Medikamente zu schlucken. Sie nimmt sie gewöhnlich nur im aufgelöstem Zustand zu sich. Doch die Pfleger kümmerten sich nicht um solche Details, sondern bestraften sofort. Ihr Vater kommentierte abschließend: „Auch wenn die Krankenhausleitung sagt, dass man mit diesen Menschen in einer freundlichen, verständlichen und respektvollen Sprache sprechen soll, ist dies leider eine systemische Angelegenheit – eine solche Haltung scheint in den meisten Fällen jedoch nicht vorhanden zu sein. Und diese Haltung ist im Grunde genommen völlig zerstörerisch für Heranwachsende, die nach ihrem 18. Lebensjahr in dieses Umfeld gekommen sind, wo die Menschen, das Personal, entschuldigen Sie bitte diesen Ausdruck, sich so sehr abgestumpft hat, dass eine professionelle Routine eingetreten ist und sie alle gleich behandeln“.
Lauras Erfahrungen beschäftigen inzwischen die lettischen Ermittlungsbehörden. Ihre Eltern berichteten der Polizei über ein zufällig über Handy mitgehörtes Gespräch zwischen dem besagten Sanitäter und Kolleginnen, in dem er sich über Laura äußerte und Drohungen gegenüber den Eltern angekündigt habe. Polizei und Klinik leiteten Ermittlungen ein. Der Sanitäter wurde vom Dienst suspendiert. Sandra Puce, Klinikleiterin, sieht folgende Ursachen für das Fehlverhalten ihres Personals: „Das sind Menschen, die, ja, nur geringe Löhne erhalten, deshalb versuchen sie, mehrere Jobs zu kombinieren, und manchmal tun sie das auch wirklich… Wir können nicht alles sehen, was sie tun, deshalb werden wir unsere derzeitige Überwachung stark ändern. Wir werden auch unangekündigte Kontrollen durchführen, da alles bereits abends und an den Wochenenden stattfindet. An Werktagen, wenn die Abteilungsleiter, Ärzte, Oberschwestern und die Geschäftsleitung anwesend sind, sind solche Dinge auf keinen Fall zulässig.“
Hier erweist sich die schlechte Behandlung als Politikum: Es zeigt sich, dass das Personal überfordert ist und wegen schlechter Bezahlung Nebenjobs annehmen muss. Doch statt für bessere Bezahlung zu sorgen und die Arbeitsbedingungen in den überfüllten Kliniken zu verbessern, wird mit stärkeren Kontrollen gedroht. Das dürfte die Situation kaum entspannen.
Lauras Erfahrungen stellen keinen Einzelfall in der lettischen Psychiatrie dar. In einem zweiten Bericht beschrieben die LTV-Journalisten die Haltung des Personals gegenüber einem anderen Patienten (lsm.lv). Eine Angehörige berichtete den Journalisten in diesem Fall über unangemessenes Verhalten der Ärzte. Am schockierendsten sei jedoch das Benehmen eines Wachmanns gewesen. Als der Patient erfuhr, dass er in der Klinik bleiben müsse, sei er etwas aggressiv geworden. Darauf sei der Wachmann gekommen und habe ihn in den Bauch gestoßen. Sandra Puce wies darauf hin, dass der Wachmann nicht zum psychiatrischen Team gehört habe. Offenbar ist für die Bewachung der Anstalt eine Privatfirma zuständig. Die Angehörige beschwerte sich bei der Klinikleitung, fand aber kein Gehör.
Seit 2024 bis zum Sommer 2025 erhielt die zuständige Aufsichtsbehörde 22 Beschwerden über die Kliniken an der Tvaika iela in Riga und die Anstalt in Strenci. Neun davon hätten unmittelbar im Zusammenhang mit der Verletzung von Patientenrechten gestanden. In der Regel beschweren sich die Patienten nicht, weil sie ihre Rechte gar nicht kennen. Behördenleiterin Dina Lazdina beschrieb die Beschaffenheit dieser Klagen: „Die wichtigsten Aspekte, die in den Patientenanzeigen genannt werden, sind die Verletzung der Patientenrechte in Bezug auf eine rechtzeitige Behandlung, eine dem Zustand des Patienten angemessene Behandlung, die Unzulänglichkeit oder Unvollständigkeit von Informationen oder unklare Erklärungen gegenüber dem Patienten sowie die Verletzung der Privatsphäre und Vertraulichkeit“. Doch keine Klinik wurde aufgrund der Anzeigen belangt, die Aufsichtsbehörde machte lediglich Verbesserungsvorschläge.
Zahlreiche Klagen über die lettische Psychiatrie erhielten auch LTV und die staatliche Beauftragte für Menschenrechte, Karina Palkova. Ihr Büro hat seit 2024 mehr als 30 Beschwerden erhalten, was sie als „viel“ bezeichnet. „Ich sehe hier tatsächlich diskriminierende Anzeichen dafür, dass Menschen mit psychischen Störungen nicht die Leistungen erhalten, die ihnen zustehen. Dementsprechend sehen wir Diskriminierung sowohl in der Kommunikation als auch in der Behandlung. Meiner Meinung nach ist das absolut inakzeptabel,“ meinte sie zu den Zuständen in der lettschen Psychiatrie.
Nicht nur in Lettland, auch in Deutschland bestehen Zweifel, ob psychiatrisches Personal die Rechte ihrer Patientinnen und Patienten beachtet. Laut UN-Konvention dürfen Zwangsmaßnahmen nicht mehr vorkommen. Doch Psychiater setzten in der Landesgesetzgebung Ausnahmeregelungen durch. Nach wie vor erfolgen Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen: Patienten werden angehalten, Psychopharmaka zu schlucken, ohne dass sie über Risiken und Nebenwirkungen hinreichend informiert sind. Bei störendem oder aggressivem Verhalten können sogenannte „Fixierungen“ erfolgen: Dabei werden Patienten stunden- oder sogar tagelang in ihrem Bett gefesselt. Die Elektroschock-Behandlung erfährt eine Renaissance.
Peter Lehmann, vielleicht Deutschlands bekanntester Psychiatrie-Kritiker, ist sogar der Ansicht, dass sich die Verhältnisse in der Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten noch verschlechtert hätten: „Die Schulpsychiatrie gibt sich freundlicher, die Behandlung ist jedoch viel aggressiver, zerstörerischer geworden. Das zeigt sich unter anderem an der im Vergleich mit der Durchschnittsbevölkerung wesentlich geringeren Lebenserwartung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und entsprechender Behandlung, das heißt in aller Regel die Verabreichung von psychiatrischen Psychopharmaka und von Elektroschocks.“ Zwar wiesen Psychiater und Pharmaindustrie darauf hin, dass die prekären Lebensverhältnisse die Lebenszeit der Betroffenen verkürzten, etwa schlechte Ernährung, Rauchen, Drogen, Alkoholkonsum. „Aber selbst, wenn dem so sein sollte: Wie verantwortungslos wäre es, derart körperlich angeschlagenen Menschen auch noch Psychopharmaka zu verabreichen, zu deren häufigsten Auswirkungen gefährliche Herzrhythmus- und Stoffwechselstörungen zählen?“*
*Peter Lehmann: Humanistische Antipsychiatrie. Texte aus 45 Jahren. Peter Lehmann Publishing: Berlin 2025, S. 72.