Niemand würde im Westen behaupten, dass die Ukraine keine Demokratie sei. Wirklich niemand? Marta Havryshko, die in der Westukraine geboren wurde, ist dieser Niemand. In einem langen YouTube-Interview argumentierte sie gegen westliche Propaganda über ihr Heimatland (YouTube.de). Das englischsprachige Interview soll noch auf Deutsch erscheinen.
Die Historikerin, die in Lwiw studierte, leitete in der Ukraine zuletzt die Holocaust-Gedenkstätte Babyn Yar. Nach dem russischen Angriff vom Februar 22 floh sie nach Deutschland, dann in die USA, wo sie mittlerweile an der Clark-Universität im US-Bundesstaat Massachusetts unterrichtet. Sie floh aber nicht nur vor den Russen, sondern vor allem vor den eigenen ukrainischen Nachbarn, von denen sie als „innere Feindin“ betrachtet wird.
Havryshko wurde in der Oblast Lwiw geboren. Sie beschreibt die Gesinnung der Westukrainer als sehr nationalistisch. Holocaust, Antisemitismus, Nationalismus, Militarismus, Feminismus, LGBT – solche Themen kamen in diesem patriarchalisch geprägten Milieu gar nicht gut an. Bei patriotisch Gesinnten sind Erinnerungen an eigene Verbrechen und Kollaboration mit NS-Deutschland verpönt; das könnte das internationale Image des Landes gefährden. Eine solche Haltung musste sie sogar bei Kollegen an der Hochschule feststellen, die leugnen, dass die Ukraine ein Problem mit Faschismus hat.
So geriet die Holocaustforscherin ins Fadenkreuz von ukrainischen Rechtsradikalen, die Kampagnen gegen sie starteten und sie weiterhin mit entsprechenden Internet-Hassmails bedrohen, auch in den USA haben die White-Supremacy-Bewegung und andere Far-Right-Truppen sie als Feindin ausgemacht.
Neonazis willkommen
Die Historikerin widerspricht der in westlichen Medien verbreiteten Behauptung, dass die Ukraine kein besonderes Problem mit Rechtsextremismus und Faschismus habe, schließlich gebe es Nazi-Gruppen allenthalben. Doch in anderen Ländern werden Nazis verfolgt und bekämpft, in der Ukraine dagegen haben sie freies Spiel unter der Obhut der Behörden. Das Land ist Magnet für Rechtsextremisten aus aller Welt geworden. Hitler-Fans, die beispielsweise aus dem Schengen-Raum verbannt sind, können sich am Dnjepr frei entfalten, ihre Gesinnung auch gut vermarkten, beispielsweise mit T-Shirts, die mit der Aufschrift „Auschwitz University“ um Aufmerksamkeit buhlen. Nazi-Konferenzen können in aller Öffentlichkeit stattfinden. Antifaschisten müssen sich hingegen vorsehen.
Der ukrainische Staat und dessen Behörden kooperieren mit Faschisten, weil Männer für den Fronteinsatz benötigt werden. Die Hitler-Fans sorgen für Nachschub aus aller Herren Länder. Teilweise sind rechtsradikale Kampftruppen wie das Asow-Bataillon in die offizielle Armee integriert.
Ukraine – kein Bollwerk von Demokratie und Freiheit
Für Havryshko ist Wolodymyr Selenskyj kein Demokrat. Er wurde einst gewählt, um für Frieden zu sorgen; doch danach formulierte er Kriegsziele, die Verhandlungen lange unmöglich machten. Bereits vor dem russischen Einmarsch ließ er linke Parteien verbieten. Das politische Spektrum, das noch zur Wahl steht, reicht von Konservativen bis zu Rechtsradikalen. Linke Oppositionelle sind geflohen oder wagen es nicht mehr, in der Öffentlichkeit Stellung zu beziehen.
Ähnlich betrüblich steht es um die ukrainische Presse, die nicht frei ist. Themen, die das ukrainische Image gefährden und den Regierungskurs infrage stellen, sind unerwünscht. Journalisten verstehen sich als Aktivisten für die ukrainische Sache oder halten lieber den Mund. Bürger mit Meinungen, die vom Regierungskurs abweichen, trauen sich nicht, mit Journalisten zu sprechen. Der Geheimdienst überwacht die Medien und kontrolliert, was die Interviewten sagen.
Präsident Selenskyj ist selbst Teil des Problems. Denn er wagt nicht, Rechtsextreme wie das Asow-Bataillon in die Schranken zu weisen. Havryshko weist darauf hin, dass der Aufbau der Asow-Organisation und die Karriere Selenskyjs von demselben ukrainischen Oligarchen finanziert wurden.
Stattdessen wird lieber der Krieg, der nicht mehr zu gewinnen ist, fortgeführt. Auf den Straßen werden Männer zwangsrekrutiert. Sogar Kranke werden eingezogen und ohne medizinische Versorgung an der Front verheizt. Nur wer wohlhabend ist und genügend bestechen kann, kann sich dem Kriegsdienst entziehen. Die Arbeiterklasse, die sich Korruption nicht leisten kann, muss in den längst verlorenen Krieg ziehen.
Putins Eigentor
Angeblich war die Entnazifizierung der Ukraine ein wichtiges Ziel der „russischen Spezialoperation“. Havryshko meint, dass Russland das Gegenteil erreichte. Die russische Invasion sei geradezu ein „Geschenk“ für ukrainische Faschisten gewesen. Russlands Armee zielt auch auf zivile Einrichtungen, ukrainische Zivilisten kommen ums Leben. Ukrainische Soldaten, die in russische Gefangenschaft geraten, fürchten Folter und Verstümmelung. Somit entsetzte russisches Militär auch jene, die einst prorussisch gesinnt waren.
Solche Kriegsverbrechen kommen ukrainischen Neonazis zupass. Sie können sich als Beschützer und Befreier aufspielen. Seit dem russischen Angriff herrscht für den ukrainischen Faschismus Hoch-Konjunktur. Und diese ultranationalistisch Gesinnten haben gar kein Interesse daran, den Krieg zu beenden; sie hat eine Art Netanjahu-Syndrom erfasst: Die persönliche Existenz ist mit dem Krieg verbunden. Ein Kriegsende könnte bittere juristische Folgen für sie bedeuten.
Die westliche Heuchelei
Havryshko schließt nicht aus, dass Asow & Co. sogar direkt nach der Macht greifen könnten. Was würde der Westen unternehmen, wenn solche Kampftruppen Selenskyj stürzten, um für ein Intermarium zu marschieren – die Ukraine als Bollwerk angeblich europäischer Werte, das sich sowohl gegen Russland als auch gegen den „dekadenten“ Westen richtet? Der Westen hat dafür bereits genügend Waffen geliefert – Westliche Nazis sind ja gute Nazis.
Ihre Landsleute würden allmählich erkennen, dass sie vom Westen für einen Proxy-Krieg missbraucht werden. Ukrainer sollen weiterkämpfen, um Russland zu schwächen. Doch nun will US-Präsident Donald Trump dieses ukrainische Fass ohne Boden nicht mehr finanzieren. Die Europäer sind durch die Sanktionen, die sie gegen Russland verhängten, selbst geschwächt und sie vermögen trotz allem propagandistischen Getöse nicht, in die Bresche zu springen. Allmählich erkennen die Ukrainer die Lage. Havryshko beobachtet „Kriegsmüdigkeit“ – welch ein sympathisches Wort in diesen kriegslüsternen Zeiten.