Do. Nov 21st, 2024
Nicht alle leben im Wohlstand, Blick auf Daugavpils, Foto: alinco_fan, CC BY 3.0, Link

Wer als Tourist Riga besucht, sieht alles in schönster Ordnung: Die Straßen sind genauso mit SUVs verstopft wie in westlichen Metropolen, die Altstadt ist verkehrsberuhigt und schön, auch schön gentrifiziert. Verdiener mit geringerem Einkommen müssen sich weiterhin mit einer Wohnung in einer Plattenbauschachtel am Stadtrand begnügen und so manchem Habenichts bleibt nichts anderes übrig, als Platte zu machen. Lettland machte seit den Jahren der Unabhängigkeit beachtliche Fortschritte. Doch der Wohlstand kommt den verschiedenen Einkommensgruppen im zu unterschiedlichen Maß zugute, viele kommen zu kurz. Lettland gehört sozial zu den ungleichsten Ländern der EU. Dies dürfte einen wichtigen Grund für den chronischen Bevölkerungsverlust darstellen.

Ende 2023 war der lettische Bevölkerungssaldo im Vergleich zum Jahresbeginn mit 11.100 im Minus, damit hatte Lettland prozentual wieder den größten Bevölkerungsschwund in der EU und einen der größten auf dem Planeten; auch die Zahl der Geburten ist mit nur 14.500 auf dem Tiefststand, das ist die geringste Zahl in 100 Jahren. (lsm.lv) Das jüngste Plus im Migrationssaldo linderte den Schwund vorübergehend. Seit 2022 nimmt Lettland viele Ukrainerinnen mit Kindern auf. Lettische Behörden verhalten sich gegenüber ukrainischen Flüchtlingen deutlich wohlwollender als gegenüber Asylsuchenden aus anderen Nationen, die zuweilen an der Grenze zurückgeprügelt werden.

Der geringsten Geburtenzahl steht eine der höchsten Sterberaten gegenüber. Wirtschaftsprofessorin Zane Varpina findet es “sehr, sehr” beunruhigend, wie vorzeitig lettische Einwohner ums Leben kommen: “Im Jahr 2023 starben 1500 Menschen an äußeren Todesursachen, darunter Suizide, darunter Verkehrsunfälle, Unglücke, Ertrinken, Gewalttaten, Drogenmissbrauch. Im Prinzip könnten wir das alles verhindern. Kinder müssen nicht im Krankenhaus sterben, weil sie nicht geimpft sind, Menschen müssen nicht durch Unglücke, Unfälle oder Suizid sterben,” sagte sie dem Nachrichtenportal LSM (lsm.lv). Positiv wertet sie, dass mehr Migranten zurückkehren, es sei nun Aufgabe der Letten, den Lebensstandard und das Einkommensniveau und damit die Rückkehrerzahl zu steigern. Das lässt sich leicht fordern. Ökonomen beklagen schon jetzt den zu raschen Anstieg der Löhne und Gehälter, bei dem die Produktivität nicht mithält und sich die lettische Wettbewerbsfähigkeit im internationalen kapitalistischen Ringkampf um Absatz und Märkte ständig verschlechtert.

Lettische Bevölkerungsentwicklung im prozentualen Vergleich zum Vorjahr,

vgl. de.statista.com

Anfang 2023 betrug die Einwohnerzahl noch 1.877.445, trotz des Zuzugs aus der Ukraine nahm die Bevölkerung im Vergleich zum Vorjahr nochmals um 1938 Einwohner ab (ec.europa.eu). Seit der Unabhängigkeit schrumpft die lettische Bevölkerung chronisch. Damals lebten in Lettland etwa 2,7 Millionen Menschen, heutzutage sind es etwa 800.000 weniger. Zunächst hatten Letten nichts dagegen, wenn beispielsweise Sowjetsoldaten nach 1991 abgezogen wurden und in ihre Heimat zurückkehrten. Doch nach und nach emigrierten auch viele lettische Arbeitskräfte, weil die Löhne zuhause gering und die soziale Absicherung dürftig blieben; im Westen, z.B. in Irland, war in den letzten Jahrzehnten ein Dasein als Hilfsarbeiter ein- und erträglicher als beispielsweise eine Unterrichtstätigkeit an einer lettischen Hochschule. Lehrer und Dozenten gehören zu den am schlechtesten bezahlten Berufsgruppen im Lande, viele von ihnen können sich kaum zur Mittelschicht zählen.

Nur 40 Prozent der lettischen Einwohner zählen sich zur Mittelschicht, deutlich weniger als in Estland (55 Prozent) und Litauen (58 Prozent). Evija Kropa, Swedbank-Finanzexpertin, sieht in der Mittelschicht die Stütze des bürgerlichen Staats: “Gewiss ist eine gute, wohlhabende Mittelschicht eine sehr gute Basis für ökonomische Prozesse. Sie stellt höhere Ansprüche an die eigene Bildung, der Bildung der Kinder, an politische Entscheidungen, an die staatliche Entwicklung im Ganzen und deshalb ist es bestimmt ein wichtiger Aspekt, auf den man auch im Zusammenhang mit der staatlichen Entwicklung schauen muss.” (lsm.lv)

Janis Priede, Dekan der Fakultät für Wirtschaft und Soziales der Lettischen Universität, nennt die objektiven Gründe, weshalb sich weniger Einwohner zur Mittelschicht zählen. “Wir haben gerade einen Kostenschock erlebt, und es hat sich in dieser Studie sofort gezeigt, dass die Mittelschicht sich relativ schlechter gestellt fühlt, sie hat das Gefühl, dass jetzt alles teurer geworden ist, so ist es eben.” Priede weist auf die rapiden Preissteigerungen der letzten Jahre, die Reaktion der EZB mit Zinserhöhungen, die die Wirtschaft abwürgten. Dass die misslungene Sanktionspolitik gegen Russland die eigene Wirtschaft traf, erwähnt Priede freilich nicht.

Ranking der EU-Länder nach Einkommensungleichheit im Gini-Index 2022,

de.statista.com

Der Abstieg aus der Mittelschicht ist nicht nur ein “Gefühl”. Laut Eurostat-Daten verzeichnet Lettland nach Bulgarien und Litauen die größte Einkommensungleichheit in der EU. Glücksforscher Matthias Binswanger wertet in den wohlhabenderen Staaten, zu denen Lettland gerade noch zählen mag, relative Einkommensgleichheit in der Gesellschaft als wichtigstes Kriterium für Glück und Zufriedenheit. In Gesellschaften mit hohem Gini-Koeffizienten, also großer Ungleichheit, steigt der soziale Stress. Die Unsicherheit und die Furcht, in der sozialen Hackordnung nicht mehr Schritt halten zu können, nimmt in solchen Ländern zu, bewirkt Radikalisierung. Lettland wurde durch neoliberale Regierungen geprägt, für die gesellschaftliche Ungleichheit und soziale Absicherung kein besonderes Thema waren.

Zur ärmsten Gruppe zählen in Lettland übrigens die Rentner. Während ihre Altersgenossen aus anderen EU-Ländern sich auf Kreuzfahrten tummeln und in hübschen Immobilien ihren Lebensabend genießen, hat ein lettischer Rentner Mühe, die bescheidene Wohnung, Lebensmittel und Medikamente gleichzeitig zu bezahlen. Viele von ihnen fristen ihr Dasein als Parkplatzwächter oder setzen ihre Arbeit fort, weil die Rente nicht hinreicht. Da scheinen mir die Sätze der LSM-Journalistin Daina Zalamane, mit denen sie ihren Artikel zum Thema beschließt, geradezu zynisch: “Es gibt jedoch auch eine positive Nachricht: Es gibt in Lettland aktive Senioren, die nach dem Eintritt in den Ruhestand weiterarbeiten und eine gute Ergänzung für den Arbeitsmarkt darstellen.” (lsm.lv) Es wird Zeit für ein Umdenken, sonst macht tatsächlich der Letzte das Licht aus.

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