Seit mehr als zwei Jahren führt nun Russland Krieg gegen die Ukraine. Das Gemetzel hätte bereits nach zwei Monaten beendet werden können, wenn der Westen Wolodimir Selenski nicht aufgefordert hätte, den Kampf fortzusetzen. Seitdem schickt er seine Soldaten an die blutige Front, um alle von der russischen Armee besetzten Gebiete zurückzuerobern. Obwohl inzwischen das Gegenteil eintritt, hält die ukrainische Regierung an diesem Ziel eisern fest und lehnt Verhandlungen ab. Sie wird dabei besonders von baltischen Machthabern unterstützt, die, statt diplomatisch zu agieren, rhetorische Eskalation betreiben. Dabei droht ihnen das Verständnis ihres wichtigsten Verbündeten, den USA, verlorenzugehen. Dies verdeutlichte ein Artikel in der US-Militärzeitschrift Responsible Statecraft.
Estnische Furcht vor der Angst-Falle
Noch am 18. Mai 2024 äußerte sich die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas auf einer Konferenz in Tallinn in einer Art, die Engländer als “hawkishness”, als falkenartige Angriffslust, bezeichnen. Sie forderte mehr Hilfe für die Ukraine, womit sie vor allem mehr Waffenlieferungen meinte. “Angst hält uns davon ab, die Ukraine zu unterstützen. Länder haben verschiedene Ängste, sei es die nukleare Furcht, Furcht vor Eskalation, Furcht vor Migration. Wir dürfen nicht in die Falle der Angst geraten, weil es das ist, was Putin will. Er will, dass wir uns fürchten und aus Angst die Ukraine nicht unterstützen.” Die Ukraine müsse nicht nur so lange wie möglich, sondern auch so viel wie möglich unterstützt werden. Damit meinte sie selbstverständlich militärische Unterstützung, die den Krieg auf ungewisse Zeit verlängern und noch zahlreiche Opfer fordern könnte. Es ist fraglich, ob dieses Eskalationsgebaren tatsächlich eine Unterstützung für die Menschen in der Ukraine darstellt. Auch Kallas fordert den Endsieg: “Das bedeutet, der Ukraine zu helfen, Russland auf seine Grenzen zurückzudrängen. Wir müssen die Sanktionen aufrecht erhalten, bis die territoriale Integrität der Ukraine wieder hergestellt ist. Der Aggressor muss für seinen Schaden bezahlen und die Täter, die russische Führung eingeschlossen, müssen haftbar gemacht werden. Das Ende der [militärischen] Grauzonen wird den Frieden bringen, den Europa benötigt – das bedeutet, dass die Ukraine sowohl ein Mitglied der EU als auch der NATO werden muss.” (news.err.ee)
Angeblich will kein westlicher Politiker mit Putin reden
Ähnlich äußerte sich der litauische Staatspräsident Gitanas Nauseda am 25. März 2024 in Brüssel gegenüber der Wochenzeitung Politico: “Ich denke, dass sich das Verständnis dafür verbreitet, dass wir Russland besiegen müssen, weil es ansonsten eine Fortsetzung dieser tragischen Geschichte geben wird.” Er sehe keine westlichen Politiker, die mit Putin über die Ukraine sprechen wollten (politico.eu). Sein lettischer Kollege Edgars Rinkevics hatte bereits zehn Tage zuvor auf “X” im Stile des Römers Cato die Zerstörung Russlands gefordert: “Russia delenda est!” (LW: hier).
„Russia delenda est“ – Rinkevics` fragwürdige Kraftmeierei
Edgar Mamedov, außenpolitischer Berater der Sozialdemokraten des EU-Parlaments, der zuvor als Diplomat in lettischen Diensten tätig war, reagierte auf Rinkevics` Äußerung am 19. März 2024 mit einem Artikel in der US-Militärzeitschrift Responsible Statecraft. Rinkevics habe die Redewendung benutzt, um an den beständigen Kampf gegen Russland zu mahnen; doch die meisten Menschen nähmen den Satz wörtlich, als Aufruf zur Vernichtung. In Moskau fand Rinkevics` Kraftmeierei entsprechend polemische Reaktionen. Mamedov rät den Balten dazu, in Betracht zu ziehen, wie solche Sprüche bei ihrem wichtigsten Verbündeten, den USA, ankommen. “Was europäische Politiker in Betracht ziehen sollten, ist, wie ihre Rhetorik von ihren Verbündeten in Washington wahrgenommen wird zu einer Zeit, in der es vorsichtige Anzeichen eines Rückzugs der USA von ihrer allgegenwärtigen, hyperaktivistischen globalen Rolle gibt. Das ist gewiss noch richtiger im Falle der baltischen Staaten, deren Sicherheit nahezu vollständig vom US-amerikanischen Willen abhängig ist, ihnen zur Hilfe zu kommen, falls sie attackiert werden sollten. Es ist nicht klar, ob Rinkevics die Wirkung seiner Rhetorik auf seinen mächtigsten Verbündeten vollständig erfasst hat.”
Vernunft statt Empörungsmangement
Mamedov zitiert Elbridge Colby, einen ehemaligen Beamten der Trump-Regierung, der nach einem eventuellen Sieg der Republikaner im November wieder eine einflussreiche Position in der US-Militärpolitik innehaben könnte. Colby kommentierte Rinkevics` Aufruf mit einem Appell an die Vernunft: “Für Amerikaner ist es entscheidend, dass die Sache der Alliierten als rational, defensiv und nüchtern betrachtet werden kann, um das Risiko eines Atomkriegs mit Russland zu überdenken.” Daraus folgert er, dass der Aufruf, Russland zu vernichten, solchen Kriterien nicht gerecht wird, stattdessen bedeutet er Eskalation und die Gefahr eines Atomkriegs.
Balten können sich eskalierende Rhetorik nicht leisten
Rinkevics hatte sich offenbar vom französischen Kollegen Emmanuel Macron ermutigt gefühlt, der einen offiziellen Einsatz französischer Truppen auf ukrainischem Gebiet nicht ausgeschlossen hatte. Der französische Staatspräsident muss zusehen, wie sein Land in Nordafrika den Einfluss auf seine Ex-Kolonien verliert und diese sich lieber Russland zuwenden. Vielleicht ein Grund für die neuen aggressiven Töne aus Paris, die von baltischen Politikern begrüßt werden. Doch im Gegensatz zu Frankreich, das von Russland relativ weit entfernt liege und militärisch selbstständig agiere, können sich nach Mamedovs Auffassung die Balten eine solche Haltung nicht leisten: “Im Gegensatz dazu, sollten die baltischen Staaten vorsichtig damit sein, Rhetorik und Zielsetzungen zu eskalieren, sowohl wegen ihrer höheren Verwundbarkeit gegenüber einer russischen Aggression als auch wegen der größeren Abhängigkeit von äußerer Hilfe.”
Problematisches „moralisierendes Framing“ im Westen
Mamedov bemerkt ein “moralisierendes Framing” im Westen, das die vorsichtige und nüchterne Risikoabschätzung beiseite schiebt. Würde die NATO offiziell und mit allen ihren Mitteln in den Krieg ziehen, wie offenbar von manchem baltischen Falken erwünscht, könnte die russische Führung zum letzten Mittel, den Einsatz von Atomwaffen, greifen. Diese Gefahr wird an der NATO-Ostflanke weitgehend als Argument der Feiglinge veralbert. Schließlich fragt sich Mamedov: “Können die baltischen Staaten auf Washingtons fortwährender Bereitschaft vertrauen, sich zu ihren Gunsten auf ein nukleares Abenteuer mit Russland einzulassen, wenn ihre eigenen Aktionen als unnötig provokativ angesehen werden? Wir können der Ukraine helfen, sich der russischen Aggression zu widersetzen, ohne uns auf den rutschigen Abhang einer fehlgeleiteten Eskalationsrhetorik zu begeben.”