Per Zufall geriet mir letztens folgendes Buch von Natascha Wodin in die Hände, Sie kam aus Mariupol. Da ich selber die Stadt 2023 besucht habe (https://lettlandweit.info/russlandreise-teil-3-mariupol/), weckte es natürlich mein Interesse, da es kaum Literatur über die Stadt in deutscher Sprache gibt.
Darin wird das Leben ihrer Mutter beschrieben anhand von Erzählungen, Aufzeichnungen von Verwandten und aus dem Tagebuch der Schwester der Mutter. Die Mutter kam im 2. Weltkrieg als Ostarbeiterin mit der Familie nach Deutschland, existierte unter schwersten Bedingungen auch später als displaced People wurde das Leben nicht wirklich besser in den ersten Nachkriegsjahren.

Aus der Wochenzeitung, Das Reich von 1943
Nachdem sie den Versuch der Unabhängigkeit u.a. unter der Machno Bewegung beschreibt, den Hunger, die sieben mal veränderten Machtgefüge in Mariupol kommt sie mehrfach auf die Sprachfrage zu sprechen, ich zitiere:
„Auch in Physik und Chemie profitiert Lidia von ihren Ukrainischkenntnissen, die sie ihrer Kinderfrau Tonja verdankt. Die meisten Professoren beherrschen nur die in Misskredit geratene russische Sprache die man in der Ukraine nach der Revolution zur Sprache einer chauvinistischen Grossmacht erklärt hat.
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Der Linguistik Professor beherrscht über ein Dutzend Sprachen, seine Lieblingssprache ist aber nicht etwa Ukrainisch, sondern Persisch. Schon dadurch zieht er sich den Unmut der studentischen Parteizelle zu. Ein wahren Sturm der Entrüstung löst seine Behauptung aus, das Ukrainische sei keine eigene Sprache, sondern ein Idiom des Russischen. Die patriotischen Aktivisten fauchen und geifern, aber sie haben keine Argumente. Schliesslich verfassen sie eine Beschwerde, liebend gerne hätten sie den Professor von der Uni weggebissen, doch er ist Mitglied vieler ausländischer Akademien, gehört der Royal Society an und steht im Briefwechsel mit zahlreichen Wissenschaftlern aus aller Welt.
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Immer wieder entbrennen hitzige Diskussionen darüber, in welcher Sprache der Unterricht abgehalten werden soll, auf Russisch oder Ukrainisch das Ukrainische wird von der Masse der Studenten, von der Partei und von der Leitung des ukrainischen Schriftstellerverbandes favorisiert. Alles Russische wird in stundenlangen Tiraden verteufelt. Im Vestibül der Universität hängt ein großes Plakat: Auf dem Universitätsgelände darf nicht russisch gesprochen werden. Es wird alles mögliche gesprochen, Deutsch, Jiidisch, Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, aber Russisch, das alle sprechen und verstehen, ist verboten.
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Zusätzliche Einnahmen beschert Lidia immer wieder auch die verordnete Ukrainisierung der Odessiten. Für ein gutes Honorar wird sie mit Übersetzungen von Betriebsverordnungen und Arbeitsbroschüren aus dem Russischen ins Ukrainische beauftragt, ein anderes Mal soll sie die Mitarbeiter der Post auf ihre Ukrainischkenntnisse prüfen. Sie macht ein Diktat mit ihnen – die Prüflinge sprechen nur Russisch und verstehen höchstens die Hälfte, ihre Diktate wimmeln von Fehlern. Lidia muss alle mit ungenügend benoten, worauf sämtliche Postbeamten gezwungen werden Ukrainischkurse zu belegen.
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Die Partei und der Genosse Stalin spendieren den Absolventen eine Frikadelle mit Kartoffeln, zum Nachtisch ein süsses Brötchen und eine Tasse Tee. Lidia bemerkt, dass sie offenkundig nicht die einzige ist, die die ukrainische Unschuld vom Lande gespielt hat. Als der gemütliche Teil des Abends mit Tanz und alkoholischen Getränken beginnt, vergessen die meisten, dass sie Ukrainisch sprechen müssen, und verfallen freudig ins Russische.
Leider ging die Sprachdiktatur auch schon in der Zarenzeit in eroberten Gebieten von den sie okkupierenden Russen aus. Auch als schon das Zarenreich Teile des heutigen ukrainischen Staatsgebietes und auch anderweitig Territorien eroberte, wurde dort sofort mit einer Russifizierung begonnen und dies auch teilweise durch einen Bevölkerungsaustausch. Es muß ja betont werden, daß die heutige Ukraine zu großen Teilen eben kein ur-russisches Gebiet ist – und dies am allerwenigsten auf die Krim zutrifft.
Sicher durch die menschenverachtenden Theorien des Marxismus befeuert und gerechtfertigt wurden diese Methoden unter Lenin und Stalin noch mit äußerster und bisher in der Menschheitsgeschichte noch nie gekannter Brutalität und Systematik erneut praktiziert. Nachdem eine schon völkerrechtlich anerkannte selbständige Ukraine vom Sowjetreich überfallen und annektiert wurde und mit Methoden des Genozides, die als Holodomor (= Hungertod) bekannt wurde und dutzende von Millionen Ukrainer das Leben kostete und die Überlebenden sich mit Hungerkannibalismus und Froschsuppe retteten, versuchte natürlich auch das Stalinreich jede ukrainische Identität auszulöschen. Hierzu gehörte natürlich auch der Versuch einer Russifizierung.
Bei manchen eroberten und von den Russen deportierten Völkern gelang eine vollständige Russifizierung. So ist die Sprache und Identität und die Kultur der Liven de facto völlig ausgelöscht und auch die Rußlanddeutschen bevorzugen oftmals zu großen Teilen selbst im Exil die russische Sprache. So mag es auch Ukrainer geben, die jetzt lieber Russisch sprechen. Allerdings können eben auch Verbrechen, die zu einer Umformung oder Vernichtung eines Volkes oder seiner Identität und Sprache begangen wurden, den inneren Zusammenhalt eines Volkes bestärken. Man sieht an dem geharnischten Widerstand, den die Ukrainer einem neuen Vernichtungskrieg mit einem Zeil der völligen Auslöschung jedweder ukrainischen Identität durch Rußland entgegensetzen und auch schon vorher einer hybriden subtilen Kriegsführung entgegengesetzt haben, daß man mitunter auch das Gegenteil bewirken kann.
Daß eine selbständige Ukraine die Sprache ihrer ehemaligen Quälgeister nicht mehr praktizieren will sondern ihre eigenen Sprache etablierren und in ihrem Land auch durchsetzen will, finde ich schon aus menschlicher Sicht nur zu verständlich.
Und es darf letztlich nicht vergessen werden, daß letztlich das Ukrainische wie auch das Belarus eigenständige slawische Sprachen sind, von denen mit Exilrussen wie auch Exilukrainer mir bestätigen, daß eine gegenseitige Verständigung auf sprachlicher Ebene nicht möglich ist. Allerdings hat Russisch durch den Einfluß der Sowjetunion sich zu einer Art lingua franca des Ostens entwickelt und viele Ukrainer können natürlich aus der Zeit der russischen Okkupation noch Russisch, so daß viele Exilanten mit osteuropäischem Hintergrund verschiedenster Herkunft auch ohne Alkohol sich aus Gründen der Zweckmäßigkeit auf Russisch unterhalten.
Manche Entwicklungen allerdings gingen sogar so weit, daß Slawisten tatsächlich das Belarus für eine vom Aussterben bedrohte Sprache halten, denn im Gegensatz zu den Ukrainern, deren Nationalbewußtsein und deren Widerstandswille gegen jede Überfremdung durch den stalinistischen Terror eher zugenommen hat , hat das Russische in Belarus wohl soweit Einzug gehalten, daß sich zu Sowjetzeiten eine im Alltag gebracuhte Mischsprache namens Trassjanka gebildet hat und wohl auch heute dort das Russische sich in der Bevölkerung durchzusetzen scheint. So sieht man, wie in zwei unterschiedlichen Völkern mit unterschiedlicher Geschichte auch während der Sowjetzeit sich völlig unterschiedliche Wege auch danach ergeben könnnen.
Aber somit muß zu dem Titel und dem Schlußsatz eben korrigierend bemerkt werden dürfen, daß die Sprachdiktatur von Lenins und Stalins Reich des roten Terrors ausging und die Urainer sich erfolgreich der Auslöschung ihrer Identität und ihrer Sprache entgegengestellt haben. Somit darf die Politik der Ukraine auch nicht in jener Täter-Opfer-Umkehr im Rahmen des bekannten aktuellen Konfliktes, wie sie auch in Deutschland in manchen ideologisch motiverten sektiererhaft anmutenden moskautreuen Kreisen gerne praktiziert wird, nicht als Sprachdiktatur verunglimpft werden, sondern sollte als Pflege der eigenen sprachlichen und kulturellen Identität gesehen und verstanden werden, auf die jedes freie Volk im Rahmen seiner Selbstbestimmung sogar im Rahmen der UN-Konventionen sein verbrieftes Recht hat. Übrigens in allen europäischen Ländern gibt es Sprachgesellschaften, die den offiziellen Auftrag haben, sich um die Reinheit der Landssprache zu bemühen. Nur Deutschland hält sich eine Sprachgesellschaft, die um eine Verhunzung der deutschen Sprache bemüht ist – aber die deutschen Verrücktheiten nimmt man in unseren Nachbarländern auch nicht mehr ernst und sie dürfen sicher nicht zum Bemessungskriterium für das Verhalten der Ukrainer werden.
Und mit Verlaub gesagt; wennn es schon großer Mengen Alkohols bedarf, um in der Ukraine mit Freude Russisch zu reden, dann darf man dies auch nicht als Maßstab dafür nehmen, was die Masse der Ukrainer vielleicht würde haben wollen? Man sollte dies eben nicht auf alle Ukrainer verallgemeinern. Denn wenn die russische Sprache der allgemeine Wunsch der Ukrainer gewesen wäre, dann hätten sie ja den einmarschierenden Truppen der Putin-Armee und dem rechtsradikalen Wagnerregiment rote Teppiche ausrollen können und ihre Panzer mit Blumen bewerfen können. – Haben sie nicht, sondern sofort am Tage des russischen Einmarsches haben sich ukrainische Männer freiwillig bei ihren Arbeitgebern abgemeldet, um zur Armee zu gehen udn ukrainische Frauen und Kinder haben die Ukraine verlassen und sprechen in den sie aufnehmenden Ländern weiter Ukrainisch und nehmen geflohene Angehörioge bei sich auf.
Russen und die russische Sprache bevorzugende Ukrainer, die sich in der Ukraine nicht mehr wohlfühlen, hätten ja nach Rußland gehen können. Man weiß, daß jeder Ukrainer, der Russe werden will, sofort einen russischen Paß geschenkt bekommt! Es geht aber dem Kreml-Herrscher eben nicht um Ukrainer, die Russen werden wollen, sondern um das Land der Ukrainer – aber eben ohne Ukrainer!